Wolfsblues
in die Mangel genommen. Das hätte ich ihm beileibe nicht zugetraut, so harmlos, wie er just im Moment schien. Der Mann war hochgewachsen, jedoch sehr schlank, schlichtweg hager. Er wirkte jung, höchstens Anfang zwanzig, doch darauf konnte man sich bei einem Lykaner nicht verlassen. Er mochte genauso gut ein Jahrtausend alt sein. Sein hellblondes Haar hatte er zu einem strengen Zopf zurückgebunden und er trug eine Brille. Schüchtern und äußerst zurückhaltend - das war sein Naturell im Normalfall. Er war nicht dominant. Sein Rang lag knapp über dem eines Unterwürfigen. Im Moment war er aber außer Kontrolle. Geifer tropfte von seinen Zähne, die Augen blitzten Bernsteinfarben auf und er hatte Mühe, an seiner menschlichen Form festzuhalten. Und Enya, dieses bekloppte Stück, hatte sich zwischen dem wutschnaubenden Werwolf und dem Grund seiner Raserei positioniert. Selbst, das eine Hochschwangere vor ihm stand, tangierte den fremden Kerl nicht. Er stand kurz davor, sich in seinem Tier zu verlieren. Der Mann war ein Überlebender des Genozids von Gliwice. Warum sonst sollte er hier sein und einen solchen Hass gegenüber dem vermeintlichen Peiniger empfinden?
»Geh mir aus dem Weg!«, keifte der Unbekannte Enya an. Er war kaum zu verstehen, zitterte seine markante Kieferlinie unaufhörlich. Sein Unterkiefer war ein wenig nach vorne verschoben und passte nicht mehr zu seinem Oberkiefer. Ein deutliches Zeichen, der bevorstehenden Verwandlung.
»Es reicht jetzt, Jüngelchen!« Mein Gefährte ließ sich in diesem Punkt nur allzu gerne von Äußerlichkeiten blenden. Wenn dieser Typ ein Gliwice-Überlebender war, dann war er älter als mein Mann. Chris trat vor den Wolf. Ihre Nasen berührten fast einander, so sehr gingen sie auf Tuchfühlung. Er stierte dem aggressiven Wolf in die Augen. Ein Starrduell, na wunderbar! Auf so eine dämliche Idee konnte auch nur Chris kommen. Den Menschen konnte er in den Boden starren. Doch daraufhin würde das Tier endgültig Oberhand gewinnen und sofort angreifen.
»Wie ist dein Name?«, fragte ich und trat ohne Angst an Chris’ Seite. Verwunderung schlich sich in den Blick des fremden Mannes. Er hatte nicht erwartet, dass ich mich ihm in den Weg stellte und ihn mit Fragen löcherte.
»Ich bin Martin«, antwortete er. Ich erkannte einen dezenten nordischen Akzent in seiner Aussprache.
»Gut, Martin. Du kommst aus Skandinavien? Woher genau?«
Den Wolf in ein Gespräch zu verwickeln, erschien mir die einzig richtige Taktik.
»Ursprünglich Schweden. Doch ich lebe in Finnland. Was geht dich das an? Wer zur Hölle seid ihr überhaupt?« Er machte seiner Wut in Worten Platz und das war gut. Es beruhigte ihn, kanalisierte er seine Wut auf diese Weise. Sollte er mich anschreien und seinen Ärger verbal auslassen. Seine Kiefer wirkten unterdessen wieder richtig proportioniert. Seine Gesichtszüge erschienen weicher, als noch Augenblicke zuvor. Er senkte den Blick. Martin verlor das Starrduell, ohne dass sein Tier Oberhand gewann.
»Ich bin Megan Whitewater. Das ist Christian, mein Gefährte und Alpha des Oshkosh-Rudels in den Staaten. Enya ist die Nummer Drei in unserem Rudel und Gefährtin von Leon.« Ich zeigte auf den Vampir, der in den Handschellen hing. Sein Gesicht berührte fast den Boden. Die Schultern und Arme waren so verdreht, dass er sie sich beinah ausrenkte. Korrektur, seine Schultern waren beide ausgekugelt. Es musste höllisch schmerzen. Doch Leon bekam von all dem kaum noch etwas mit. Er so gut wie k. o.
»Dieser Mistkerl hat hier im Labor gearbeitet! Das hat er selbst gesagt!«, schäumte Martin vor Wut.
So seltendämlich wie Leon wäre ich auch gerne mal.
»Bevor oder nachdem du ihn so zugerichtet hast?« Die Frage von Chris war durchaus berechtigt.
»Enya, geh zu Leon und hilf ihm!«
Enya reagierte zuerst nicht. Sie starrte den Aggressor feindselig an. Ihr bekam diese Situation beileibe nicht gut. Der Flug hatte sie bereits mehr geschlaucht, als er sollte und im Moment war ihre Wölfin in den Vordergrund getreten. Dies konnte sich nachteilig auf ihr ungeborenes Kind auswirken. Sie durfte sich unter keinen Umständen wandeln. Ich nahm ihre Hand, drückte sie in einer besänftigenden Geste. »Enya, alles wird gut. Deinem Gefährten wird nichts mehr geschehen. Das garantiere ich dir.«
»Du solltest nichts versprechen, das du nicht halten kannst«, setzte Martin zur Gegenwehr an. Seine Drohung klang halbherzig.
»Sie geht zu ihrem Gefährten, dem Vater ihres
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