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Wolfsbrut

Wolfsbrut

Titel: Wolfsbrut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Whitley Strieber
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in einem verzweifelten Augenblick gezwungen worden, die Führerschaft zu übernehmen. Die Ordnung der Meute war ernstlich durcheinandergeraten.
    Es fiel ihr schwer zu akzeptieren, daß ihr Junge wirklich tot war. Er war so klug und eifrig gewesen, so überschäumend vor Leben. Und so schnell und stark, der kräftigste Welpe, den sie je gesehen hatten! Aber es stimmte, sein Verstand war nicht so schnell wie sein Körper gewesen. Wenn sich die Meute versammelt hatte, um die Schönheit der Welt zu bewundern, hatten seine Augen stets Verwirrung ausgedrückt. Wenn sie jagten, überließ sein Vater ihm manchmal die Führerschaft, aber stets hatte seine Schwester mithelfen müssen. Dennoch war er ein gutes, anständiges Männchen gewesen und hatte das Leben geliebt!
    In der Nähe erklang ein Geräusch. Sie drehte sich ohne Angst um. Wenn es in der Nähe war, konnte es nicht gefährlich sein, sonst hätte sie es schon vor langer Zeit bemerkt. Sie sah die Augen ihres Bruders aus dem Gebüsch starren. Warum machte er das? Es sah ihm ähnlich, sämtliche Bräuche zu mißachten. Wie konnte er es wagen, dazustehen und sie anzusehen! Sie versuchte, die Nackenhaare aufzurichten. Sie bewegten sich nicht. Sie versuchte, eine Warnung zu knurren, brachte aber nur ein Schnurren zustande.
    Er kam näher, ohne einmal den Blick von ihr abzuwenden. Darin ließ er das Gebüsch hinter sich und stand vor ihr; Schnee haftete an seinem feinen braunen Fell. Es erfüllte sie mit unsäglichem Schmerz, ihn zu sehen, so nahe zu riechen, den vertrauten Laut seines Atems zu hören. Sie legte die Ohren an, ging zu ihm und rieb die Schnauze an seiner. Sie sehnte sich danach zu klagen, hielt sich aber mit äußerster Anstrengung zurück. Er setzte sich auf die Hinterbeine und sah sie an. Seine Augen waren von einer Liebe und Freude erfüllt, die sie bei einem so unglücklichen Geschöpf überraschte. »Du übernimmst die Meute«, sagte er, »und unsere Probleme.« Und sie hatte Angst.
    Er spürte es sofort und wedelte knapp mit dem Schwanz am Boden, eine Geste, die den Gedanken übermittelte: »Hab Vertrauen.« Sie sah fasziniert, wie seine Augen zu funkeln schienen; er schien nicht einmal traurig zu sein. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sah er auf und knurrte leise. Das bedeutete: »Eine schwere Last ist von mir genommen worden.« Dann senkte er den Kopf in ihre Richtung und machte dabei die Augen zu. »Du mußt sie auf dich nehmen.« Dreimaliges Klopfen mit dem Schwanz, gefolgt von einem Zungenschlag und einem Lächeln, dem sofort gelassene Ruhe folgte. »Hab Vertrauen in dich selbst - ich habe es. Ich vertraue dir.«
    Diese Worte rührten sie zutiefst. Sie wußte, er gab seinen Stolz auf, seinen ganzen Lebensinhalt, damit nicht Uneinigkeit in der Meute herrschte. Und er vermittelte ihr nicht nur Selbstvertrauen, weil sie es brauchte, sondern aus lauterer Aufrichtigkeit. Sein Geruch hatte sich subtil verändert, während er sprach, was bedeutete, daß aus seinen Worten Liebe und eine bestimmte, schwer zu definierende Freude darüber sprachen, daß sie zur Anführerin geworden war.
    Sie machte eine Reihe Gesten mit der rechten Vorderpfote und rieb die Krallen klickend aneinander. Er gestikulierte ebenfalls, nickte. Sie verlieh ihren Worten mit kurzen Winsellauten der Bekräftigung Nachdruck. Sie sagte ihm, sie habe sein Rollen nur deshalb akzeptiert, weil ihre erstgeborenen Kinder die Meute verlassen hätte, wenn er nicht abgedankt hätte. Er stimmte zu. Dann rieben sie wieder lange Zeit die Schnauzen aneinander, hatten die Augen geschlossen, ihr Atem vereinte sich, und ihre Zungen berührten einander. Anders konnten sie ihre Gefühle nicht ausdrücken. Lange Jahre der Freundschaft, gemeinsames Welpendasein, Jugend, Erwachsenwerden. Diese Trennung würde zum erstenmal bedeuten, daß sie das Leben nicht in völliger Gemeinsamkeit meisterten. Und man konnte unmöglich sagen, wie lange das so sein würde. Obwohl er später einmal wieder ihr Partner werden konnte, würde es nie wieder wie früher sein, mit einer Führerschaft über eine Meute, die die Freude ihres Zusammenseins so ungleich größer gemacht hatte.
    Sie drehte sich unvermittelt um und stapfte davon. Sie konnte nicht länger bei ihm bleiben, sonst würde sie sich nie wieder abwenden. Sie kehrte voll Traurigkeit zu den drei Kindern zurück. Sie standen beinahe reglos im Schatten von Bäumen, ihre dunklen Gestalten verströmten den Geruch der Angst. Inzwischen war ihnen die Wahrheit klar

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