Wolfsdunkel -7-
Schwätzchen vorbei oder verabredeten Termine. Sie waren zu beschäftigt. Stattdessen spazierten jetzt scharenweise Touristen durch das Rathaus, als wäre es Teil einer geführten Besichtigungstour.
Viele von ihnen wollten die Bürgermeisterin kennenlernen, um ihr zu der tollen Veranstaltung zu gratulieren und sie mit Fragen über Lake Bluff, die Berge und die Geschichte der Region zu löchern.
Nachdem bereits die fünfte Familie in mein Büro gelatscht war, rief ich Joyce zu mir. „Nächstes Jahr engagieren wir jemanden, der Führungen macht und Vorträge über die Geschichte unserere Gegend hält.“
„Verstanden.“ Sie kritzelte etwas auf ihren allgegenwärtigen Notizblock. „Sie denken also, dass Sie nächstes Jahr noch hier sein werden?“
„Was?“ Ich hob den Blick von dem Papierwust auf meinem Schreibtisch, der seit gestern stetig angewachsen zu sein schien.
„Balthazar ist fest entschlossen, Bürgermeister zu werden, und Sie wollten den Posten ja eigentlich nie haben.“
„Wer hat das behauptet?“
„Ihr Vater.“
Reue und Trauer stürmten auf mich ein. Ich vermisste ihn. Ich hätte bleiben und das Amt von ihm übernehmen sollen, so wie er es sich gewünscht hatte. Hätte ich es getan, wäre ich Josh nie begegnet und …
Ich straffte die Schultern und hob trotzig das Kinn. „Ich habe nicht vor, in absehbarer Zeit fortzugehen.“
„Selbst wenn Balthazar gewinnt?“
„Ich habe nicht vor, Balthazar gewinnen zu lassen.“
Joyce grinste. „Ihr Dad wäre stolz auf Sie.“
Ich sonnte mich in der Vorstellung, dass mein Vater schließlich doch noch stolz auf mich gewesen wäre.
Er hatte immer gehofft, dass ich seine Nachfolge antreten würde, und war mehr als enttäuscht gewesen, als er feststellen musste, dass ich eher ins Gras beißen würde. Obwohl ich damals zu sehr mit meinen eigenen Plänen beschäftigt gewesen war, um mich um seine Gefühle zu kümmern, wünschte ich mir nun, da er tot war, ihm eine bessere Tochter gewesen zu sein. Ich würde versuchen Wiedergutmachung zu leisten, indem ich die Stadt, die er so sehr geliebt hatte, vor Schwachköpfen wie Balthazar Monahan schützte.
„Wie ich höre, hat es gestern Abend eine Ratsabstimmung gegeben“, bemerkte Joyce.
„Und?“
„Ich glaube, dass sie seit Jahren nicht mehr abgestimmt haben.“
„Ist das schlimm?“
„Nein. Ihr Vater war ein guter Mann, aber manchmal packte er die Dinge zu lasch an.“
„Wirklich?“
Das war mir völlig neu.
„Jeder tut das, wenn er damit durchkommt. Jeremiah war gut im Umgang mit den Leuten. Er hörte ihnen zu. Sie mochten ihn und vertrauten ihm.“
„Anders als bei mir.“
„Wie kommen Sie denn da drauf?“, fragte Joyce verdutzt. „Alle mögen Sie.“
„Aber sie vertrauen mir nicht. Niemand spricht mit mir, wie sie mit ihm gesprochen haben.“
„Das wird schon noch. Die Menschen wissen, dass Sie diesem Job gewachsen sind, sonst hätten sie Sie nicht gebeten, ihn zu übernehmen.“
„Woher wollen sie das wissen?“
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Claire. Ganz gleich, wie sehr Sie sich gewünscht haben mögen, es wäre anders.“
Mit einem Mal fühlte ich mich beschwingter und glücklicher als seit Monaten, wenn nicht gar Jahren. In Atlanta hatte man mir immer weniger zugetraut, als ich konnte, hier traute man mir zu viel zu.
Ich sah auf die Uhr. Noch nicht ganz Mittag. Seit geschlagenen fünfzehn Minuten war niemand mehr durch meine Tür gekommen. „Ich werde jetzt versuchen, noch etwas Arbeit vom Tisch zu bekommen“, verkündete ich.
„Soll ich Ihre Anrufe durchstellen?“
„Nur in Notfällen.“
Kurz darauf loggte ich mich ins Internet ein. Ich konnte die Sache so rational angehen, wie ich wollte, trotzdem wusste ich in meinem tiefsten Inneren, dass der Fund des Rindenstücks mit der Swastika nichts Gutes bedeuten konnte. Ich musste herausfinden, was dahintersteckte. Ich musste diese Stadt und ihre Menschen um jeden Preis beschützen. Sie hatten ihr Vertrauen in mich gesetzt, und ich würde sie nicht enttäuschen.
Ich stieß auf alle möglichen Fakten über die Nazis, die ich lieber nicht gewusst hätte. Gab es über sie irgendetwas Gutes zu wissen?
Allerdings fand ich unter dem Suchbegriff „Ursprung der Swastika“ noch etwas anderes. Das Zeichen existierte bereits seit prähistorischen Zeiten und war unter anderem in Island ein Symbol für Schutz und Wiedergeburt gewesen.
Meine Suchanfrage nach Totems, Schutzzaubern und Amuletten überschwemmte
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