Wolfsfalle: Tannenbergs fünfter Fall
weitergeht. O.K.?«, sagte Benny de Vries, setzte sich ans Steuer und fuhr los.
Es dauerte nicht lange, bis das monotone Brummen des Dieselmotors Tannenberg in den Schlaf gesungen hatte. Als der Nobel-Campingbus jedoch die westlich der Grenzstadt Nettetal gelegene Ravensheide erreichte, war er mit einem Male wieder hellwach. Die unruhige Fahrt über einen unbefestigten Wirtschaftsweg hatte seinen Schlummerzustand abrupt beendet.
Benny weihte Tannenberg in einem Crashkurs in die Geheimnisse eines modernen Reisemobils ein. Während die beiden Männer noch ein Bier zusammen tranken, schilderte Tannenberg seinem holländischen Freund ausführlich die über ihn hereingebrochenen, dramatischen Ereignisse.
Kurz nachdem Benny, der nur etwa einen Kilometer von dem eingezäunten Grundstück entfernt im Elternhaus seiner deutschen Ehefrau wohnte, sich verabschiedet hatte, verließ auch Tannenberg sein fahrbares Luxusdomizil.
Es war mittlerweile stockfinster. Kein einziger Stern leuchtete am Himmel. Anscheinend zog gerade ein Gewitter auf. Vorboten, etwa in Form von Wetterleuchten oder fernem Donnergrollen, konnte er zwar am Firmament noch keine entdecken, aber er spürte bereits das Brodeln und Knistern der sich nähernden atmosphärischen Urgewalten.
Er setzte sich auf die Türschwelle, schloss die Augen. Andächtig lauschte er eine Weile dem Grillenkonzert, das in seiner unmittelbaren Umgebung gerade veranstaltet wurde. Von weitem hörte er den spitzen Schrei eines Raubvogels.
Plötzlich dachte er an den Leviathan. Er kletterte ins Wageninnere, nahm sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, zog das gelbe Büchlein aus seinem Rucksack und vertiefte sich in die Lektüre.
Doch bereits nach einer guten halben Stunde gab er frustriert auf. Nicht etwa, weil er das, was er da eben gelesen hatte, inhaltlich nicht verstanden hätte. Nein, der Grund lag vielmehr darin, dass er einfach keine Verbindung zwischen dem Text und seiner aktuellen Situation herzustellen vermochte. Das Buch beinhaltete die staatstheoretischen Gedanken des englischen Philosophen Thomas Hobbes, Überlegungen, die ihm auf den ersten Blick recht antiquiert erschienen und mit denen er wenig anzufangen wusste.
Er besorgte sich eine weitere Dose Pils, blätterte erneut im Leviathan. Doch nur wenig später knallte er das Büchlein auf den Tisch, ballte wütend die Fäuste.
»Verdammt, irgendwo in diesem Mistding ist der Schlüssel zu dem Ganzen verborgen! Das muss einfach so sein. Sonst macht das alles doch überhaupt keinen Sinn«, grummelte er vor sich hin. Er fletschte jähzornig die Zähne. »Oder wenigstens ein entscheidender Hinweis auf diese Drecksäcke, die diese Sauerei ausgeheckt haben. Warum sonst haben die mir dieses verfluchte Philosophenbuch in die Jacke gesteckt?«
Abermals nahm er den Leviathan in die Hände, ließ zur Abwechslung mal von hinten ein paar Blätter über seinen Daumen hinweglaufen. Als er dabei auf das Nachwort zum Buch stieß, begann er sogleich damit, es interessiert zu lesen. Nach einigen Angaben zum zeitgeschichtlichen Hintergrund, zur Biographie des Philosophen und zu seinen Veröffentlichungen bemerkte Tannenberg plötzlich an der Stelle, an der sich der Verfasser des Nachwortes mit Hobbes Menschenbild beschäftigte, dünne, auf den ersten Blick kaum wahrnehmbare Bleistiftstriche.
›Homo homini lupus‹, war die erste hervorgehobene Textstelle, die Tannenberg entdeckte. Auf eine weitere stieß er bereits in der übernächsten Zeile: ›Hobbes Menschenbild ist gekennzeichnet durch das allgegenwärtige Streben der in einem bestimmten abgegrenzten Gebiet lebenden Menschen nach Vormachtstellung. Der Kampf aller gegen alle bedient sich des Mordens als zentralem Mittel. Ziel dieses von Hass geprägten barbarischen Handelns ist die Einnahme der Position eines Alphawolfes und deren Festigung durch das hochwirksame Prinzip der Abschreckung.
Der Begriff ›Alphawolf‹ war doppelt unterstrichen.
Tannenberg hämmerte mit seinen Fingern auf diese besonders markierte Textstelle, sprach dabei das aus, was er gerade dachte:
»Hier steht sie eindeutig: die unverhohlene Drohung! Da signalisiert mir einer unmissverständlich: Junge, für uns beide ist in unserem Revier kein Platz. Es kann niemals zwei Alphatiere geben, immer nur eins. Du oder ich! Das ist die einfache und klare Botschaft – Basta! Das kapier ich ja auch, verdammt! Aber von wem ist sie? Vielleicht – oder sogar wahrscheinlich – von irgendeinem Provinzfürsten des
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