Wolfsfalle: Tannenbergs fünfter Fall
Minuten?«
»Ja.«
» Gut, dann melde ich mich gleich noch mal bei dir.«
In diesen schier endlos dahinkriechenden Minuten kontrollierte Tannenberg zuerst erneut das Scooterversteck, dann versuchte er zur Ablenkung ein wenig in der Zeitung zu lesen. Jedoch konnte er sich nicht darauf konzentrieren und legte sie deshalb wieder zur Seite.
Während er den Sekundenzeiger eine Weile auf seinem stumpfsinnigen Schleichweg über das kreisrunde Ziffernblatt begleitete, sinnierte er darüber, ob die von ihm für sein Treffen mit Max ausgewählte Stelle auch tatsächlich so ideal war, wie er die ganze Zeit über gedacht hatte.
Er hatte auf seinem Weg vorhin nach Stelzenberg in Gedanken lange nach einem geeigneten Treffpunkt gesucht. Ein schwieriges Unterfangen, musste der Platz doch mehrere Kriterien gleichzeitig erfüllen: Zum einen musste er von seinem gegenwärtigen Standort aus relativ einfach zu erreichen sein, und zum anderen musste er, falls es nötig sein sollte, mehrere Fluchtmöglichkeiten bieten.
Irgendwann war in seinem ruhelosen Gehirn plötzlich der Begriff ›Wolfskaut‹ aufgetaucht. Wie schon so oft in seinem bisherigen Leben, wusste er zwar nicht, wieso diese ebenso faszinierende, wie unergründliche graue Masse hinter seiner Schädeldecke ausgerechnet in seiner gegenwärtigen Situation mit dieser schier unheimlichen Assoziation aufwartete.
Als er dann aber auf der Wanderkarte den ihm bekannten Ort ausfindig gemacht und diesen merkwürdig klingenden Namen gelesen hatte, konnte er seine Bewunderung für seine geheimnisvolle Denkmaschine nicht länger verhehlen – wusste er doch, dass das Wort ›Kaut‹ das gleiche bedeutete wie ›Grube‹ oder ›Falle‹.
Bei der ›Wolfskaut‹ handelte es sich um eine sagenumwobene Stelle mitten im südlichen Teil des Kaiserslauterer Stadtwaldes, wo ein mit diesem wunderlichen Namen beschrifteter Sandsteinfindling in einer kleinen Senke zwischen zwei hohen Bergrücken eingegraben stand – und zwar genau am Schnittpunkt von neun, sternenförmig in alle Himmelsrichtungen wegführenden Waldwegen. Eine bessere Fluchtmöglichkeit konnte es wahrlich kaum geben.
Tannenbergs Vater war jedes Jahr im Herbst mit seinen beiden Söhnen von der Beethovenstraße aus in diese herrliche Gegend zum Pilzsammeln gewandert. Und jedes Mal, wenn sie an diesem geheimnisumwitterten Ort vorbeigekommen waren oder dort eine Rast eingelegt hatten, musste er ihnen immer und immer wieder ein und dieselbe Geschichte erzählen.
Einem ungeschriebenen Ritual folgend präsentierte er stets nur eine kurze Eingangspassage: »Der Sage nach wird diese Stelle deshalb ›Wolfskaut‹ genannt, weil genau hier an diesem Stein irgendwann im 17. Jahrhundert der letzte Wolf des Pfälzer Waldes in einer Grube gefangen und anschließend getötet worden ist.«
Aber mit diesen wenigen Sätzen hatten sich seine an solchen abenteuerlichen Geschichten äußerst interessierten Jungs natürlich nie abspeisen lassen. Auf ihr inständiges Betteln hin erzählte er ihnen schließlich weitere Details: Zum Beispiel, dass die Jäger damals mit Ästen, Reisig, darüber gestreutem Laub und einem schmackhaften Köder den hungrigen Wölfen eine heimtückische Falle gebaut hatten und sie danach nur abzuwarten brauchten, bis irgendwann ein gieriges Raubtier in das Loch fiel, aus dem es aus eigener Kraft nicht mehr herausklettern konnte.
Besonders andächtig lauschten sie immer dann den wohlgeformten, mit abgesenkter Stimme vorgetragenen Worten des Vaters, wenn er ihnen davon erzählte, wie man den bösen, aggressiven Wolf mit Steinen und angespitzten Stöcken so lange malträtierte, bis er endlich tot war und man ihm das graue Fell über die Ohren ziehen konnte. Als krönender Abschluss wurde die Jagdtrophäe dann in die Stadt gebracht, wo man stets das freudige Ereignis mit einem rauschenden Fest feierte.
Tannenberg wusste bis heute nicht, ob sich sein Vater diese Geschichte damals nur ausgedacht hatte, ob es sich dabei um eine Legende handelte, oder ob hier an dieser Stelle tatsächlich irgendwann einmal ein Wolf erlegt worden war.
»Ich bin bei Marieke – also bei deinem Bruder im Haus. Wir sind mitten beim Frühstück«, flüsterte Maximilian Heidenreich so leise, dass Tannenberg ihn nur schwerlich verstehen konnte.
»Kannst du nicht ein wenig lauter reden?«
»Nein, ich bin auf der Toilette.«
»Gut. dann mach ich’s kurz: Ich muss dich unbedingt treffen. Kannst du ...« Er legte eine minimale Pause ein, während
Weitere Kostenlose Bücher