Wolfsfeder
gerechnet. Nicht, dass sie
die Arbeit der »Dorfsheriffs«, wie Konrad Kreinbrink die Escheder Polizisten
stets etwas abfällig bezeichnete, nicht zu schätzen wusste. Allerdings wäre die
Kriminalpolizei aus Celle im Zusammenhang mit einem Kapitalverbrechen wohl der
kompetentere Ansprechpartner gewesen.
Irene Hogreve rief den Hausherrn, öffnete
die Haustür und bat die Polizisten herein. Doch die interessierten sich nicht
für ihre Geschichte – sie suchten Rolf Wiegand, den Gärtner.
»Er scheint nicht zu Hause zu sein«,
berichtete der Ältere der beiden, nachdem sie von ihr ins Wohnzimmer geführt
worden waren und sich am Esstisch niedergelassen hatten. Irene Hogreve
servierte Mineralwasser und setzte sich dann dazu. »Jedenfalls hat niemand
geöffnet.«
»Warum haben Sie denn nicht die Tür
aufgebrochen?«, fragte Konrad Kreinbrink streng.
»Wir hatten Order aus Celle, auf die
Kollegen von der Kripo zu warten. Außerdem hätte es ja sein können, dass er
hier bei Ihnen ist, um im Garten zu arbeiten.«
»Darüber hätten wir Sie längst
informiert«, schnaufte der Hausherr ungehalten. Er hatte alle Mühe, sich zu
beherrschen. »Stand denn sein Auto vor der Tür?«
»Der grüne kleine Pick-up?«
»Genau.«
»Ja, der stand da.«
»Dann ist er auch zu Hause.«
Der Beamte zuckte bedauernd mit der
Schulter. »Dann müssen wir eben auf die Kollegen aus Celle warten. Außerdem
sollen wir noch die Aussage von Frau Hogreve aufnehmen. Allerdings wäre es wohl
am einfachsten für alle Beteiligten, wenn sie kurz mit uns zur Wache käme. Sie
verstehen, mit dem Computer dort geht die Schreiberei viel einfacher.«
»Von mir aus.« Konrad Kreinbrink wandte
sich an die Haushälterin. »Aber seien Sie bitte bis Mittag zurück. Ich erwarte
heute Abend wichtigen Besuch.«
Irene Hogreve nickte wortlos und erhob
sich. Sie verschwand in der Küche, nahm die Schürze ab und griff nach ihrer
Strickjacke. Während sie mit den beiden Polizisten das Haus verließ, fragte sie
sich, welch »wichtiger« Besuch da wohl ins Haus stand.
* * *
Erst hatten sie noch das
Rauschen des sich rasch entfernenden Zuges im Ohr. Denn der ICE war einfach weitergerast.
Wahrscheinlich hatte der Lokführer gar nichts von dem mitbekommen, was an der
Brücke passiert war.
Doch dann legte sich eine unheimliche
Stille über die Eisenbahnbrücke. Kein Auto, kein Fahrradfahrer näherte sich.
Niemand wollte die Gedenkstätte für das ICE -Unglück
von 1998 besuchen, die sich im Westen der Eisenbahntrasse befand. Die
Landstraße schien völlig verwaist.
Die beiden jungen Männer schauten sich
betroffen an.
»Oh mein Gott«, flüsterte Finn.
»Das habe ich doch nicht gewollt«,
jammerte Kai und schlug die Hände vors Gesicht.
Finn legte ihm die Hand auf den Oberarm.
»Natürlich nicht. Los komm … wir müssen nachschauen.«
Zögernd öffneten sie die Autotüren und
stiegen aus. Finn ging um den Kühler des Land Rover und das unterhalb der
Stoßstange verkantete, völlig demolierte Fahrrad herum auf die Fahrerseite.
»Ich schaff das nicht«, sagte Kai. »Ich
kann da doch jetzt nicht runtergucken …«
»Okay.« Finn steckte die rechte Hand in
die Hosentasche und holte sein Handy hervor. »Dann rufe ich die 110 an.«
Kai nickte erleichtert.
Finn hatte die drei Nummern bereits
eingetippt und auf die grüne Taste gedrückt, als sie es hörten.
Zunächst fiel es schwer, das Geräusch zu
lokalisieren. Ein unklares, leises Geräusch. Es schien von der Bahntrasse zu
kommen, von der Bahntrasse unterhalb der Brücke. Sie spitzten die Ohren.
Es klang wie ein menschliches Geräusch.
Als ob jemand vor Schmerzen wimmerte.
Sie sprinteten die wenigen Meter zum
Brückengeländer, stiegen hinüber und kletterten auf das Schutzblech. Doch
anders als Wiegand hielten sie sich weiterhin am Brückengeländer fest.
Wiegand lag neben dem Gleisbett. Offenbar
hatte ihn der ICE nicht erfasst.
Von der Brücke aus gesehen, schien der Gärtner relativ unversehrt zu sein.
Er war bei Bewusstsein. In Seitenlage
hielt er seine Beine angewinkelt, die Hände umklammerten die Knöchel. Er
stöhnte leise.
Finn fand zuerst die Fassung wieder. Als
er sein Handy ans Ohr hielt, merkte er, dass sein Notruf funktioniert hatte und
bereits eine Verbindung mit der Rettungsleitstelle bestand.
»Eschede, ICE -Brücke,
Rebberlaher Straße«, sagte er klar und deutlich. »Selbstmordversuch mit einem
Schwerverletzten neben den Schienen. Kommen Sie bitte schnell.«
ZEHN
Sie hatte
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