Wolfsfeder
dazu, dass jemand auf
dem Streckenplatz, direkt neben dem toten Mädchen, eine Wolfsangel in den Sand
gemalt hat?«
Aus Pagels Gesicht wich jede Farbe.
»Das … das muss ein Irrer getan
haben«, stammelte er. »Einer, der mich da reinreiten will. Ich habe doch
nie … ich würde doch nie …« Entsetzt hielt er inne. »Wer würde mir so
etwas zutrauen? Sie etwa? Trauen Sie mir zu, jemanden umzubringen?«, flüsterte
er heiser.
»Es geht ja gar nicht darum, was man Ihnen
zutraut.« Von Bartlings Tonfall wurde plötzlich versöhnlicher. »Also, ich
glaube nicht, dass Sie ein Mörder sind. Sonst wäre ich jetzt nicht hier.« Die
Augen unter der hohen Stirn schauten spürbar freundlicher drein. »Sehen Sie,
wir – und insbesondere Sie – müssen sehr umsichtig zu Werke gehen.
Ich habe folgenden Vorschlag …«
* * *
Mit der Hilfe seines Freundes
kam Kai schnell wieder auf die Beine.
Als sie bemerkten, dass Wiegand nicht mehr
am Fenster war, näherten sie sich erneut vorsichtig dem Haus.
Kai nahm all seinen Mut zusammen. »Herr
Wiegand«, rief er. »Machen Sie auf. Wir müssen mit Ihnen reden.«
»Guck doch«, raunte Finn. »Er zieht den
Vorhang wieder vor.«
Tatsächlich. Wie von unsichtbarer Hand
wurde im Inneren des Hauses die Gardine zugezogen.
»Hey!«, brüllte Kai außer sich. »Was soll
denn das?« Er bückte sich und hatte plötzlich einen faustgroßen Stein in der
Hand.
»Mensch, mach so was nicht«, rief Finn
noch, aber zu spät. Glas splitterte, die Gardine wölbte sich, und der Stein
landete laut polternd im Hausinneren auf dem Fliesenboden.
Danach trat Ruhe ein. Unheimliche Ruhe.
Kai – sichtlich erschreckt über seine Kurzschlussreaktion – und Finn
verharrten regungslos im Garten und lauschten atemlos.
Dreißig lange Sekunden tat sich nichts.
Dann hörten sie durch die geborstene Scheibe, wie die Haustür auf der
Straßenseite des Hauses ins Schloss fiel.
»So ‘ne Scheiße«, rief Kai. »Er türmt!
Los, komm.«
So schnell sie konnten, rannten sie um den
Bungalow herum zur Vorderseite. Kai stieß eine Schubkarre um, die mit modrigem
Laub gefüllt war, Finn stolperte über eine im hohen Gras liegende Harke.
Sie kamen zu spät.
Als sie die Straße erreichten, sahen sie
gerade noch, wie Wiegand davonradelte.
»Mist«, fluchte Kai. Das Fahrrad musste
neben der Haustür oder in der Einfahrt gestanden haben. »Schnell, zum Auto«,
rief er Finn zu. »Den kriegen wir!«
Nur zwei Minuten später jagten die beiden
jungen Männer im Land Rover die Siedlungsstraße entlang, in der Wiegand
verschwunden war.
»Wo will der denn nur hin?«, fragte Finn
aufgekratzt. »Das macht doch alles keinen Sinn.«
»Schätze mal, der ist irgendwie
durchgeknallt«, erwiderte Kai. »Erst die Bullen, dann wir …«
»Sollten wir nicht lieber …«
»Nein!«, fuhr Kai auf. »Bis die hier sind,
ist Weihnachten und der Wiegand über alle Berge. Mein Gott, wo ist der Kerl
bloß hin?«
Der Land Rover stand an der Abzweigung
Sägemühlen- und Kriegerstraße. Sie wussten nicht mehr weiter. Von Wiegand und
seinem Fahrrad war weit und breit nichts zu sehen.
»Fahr mal zur Rebberlaher Straße«, schlug
Finn vor. »Vielleicht fährt er zum Ortszentrum.«
Kai bog links ab und gab ordentlich Gas.
Der schwere Wagen schoss vorwärts. Ein Rentner, der mit einem Dackel an der
Leine gerade aus seinem Vorgarten auf den Bürgersteig treten wollte, wich
erschrocken zurück. Wild gestikulierend schimpfte er dem viel zu schnell
fahrenden Geländewagen hinterher.
Kurz bevor sie die Hauptstraße erreichten,
sahen sie ihn.
»Da vorn fährt er«, rief Finn. »Pass auf,
der biegt rechts ab. In einem Höllentempo. Er will gar nicht in den Ort, er will raus.«
»Auf der Brücke kriegen wir ihn«,
triumphierte Kai. »Das ist unsere Chance.«
Die Eisenbahnbrücke in Eschede genoss
traurige Berühmtheit. Dort war im Jahr 1998 der ICE 884 »Wilhelm Conrad Röntgen« von Hannover kommend entgleist
und hatte die Betonbrücke zerschlagen. Etliche Waggons waren unter den Trümmern
begraben worden – zusammen mit einhunderteins Zugpassagieren, die bei
dieser Katastrophe ihr Leben ließen. Die damals zerstörte Brücke war später
wieder neu aufgebaut worden, für eine Landstraße, die aus Eschede hinaus in
Richtung des idyllischen Heideorts Rebberlah führte.
Der Land Rover bog ebenfalls rechts ab und
brauste die Steigung hinauf. Auf halber Höhe hatte das Auto den Fahrradfahrer
eingeholt. Doch der fuhr unbeirrt weiter,
Weitere Kostenlose Bücher