Wolfsfieber - Handeland, L: Wolfsfieber
riss ich unwillkürlich den Kopf herum, als irgendwo auf dem Friedhof eine Glocke zu läuten begann.
„Doppelgänger“, murmelte Cassandra und steuerte in die Richtung, aus der das Gebimmel kam. Da mir überhaupt nicht der Sinn danach stand zurückzubleiben und festzustellen, ob ihr Klopfen die Voodoo-Königin geweckt hatte, folgte ich ihr.
„Was zur Hölle meinst du damit?“
„Kennst du den Ausdruck denn nicht?“
„Natürlich kenne ich ihn. Er steht für jemanden, der einer anderen Person zum Verwechseln ähnlich sieht. Aber was hat das Ganze mit dieser Glocke zu tun?“ Ich rieb mir die Arme, um ein plötzliches Frösteln zu vertreiben. „Die hier mitten in der Nacht läutet?“
„Dieser Friedhof wurde 1789 eröffnet, als man noch nicht wusste, dass das Gelbfieber von Stechmücken übertragen wird. Die Leute glaubten, dass es von Mensch zu Mensch weitergegeben werden konnte, ob der Betreffende nun tot war oder nicht.“
„Verständlich.“
„Also legten sie den Friedhof jenseits der Stadtgrenze an, um so zu versuchen, das Fieber fernzuhalten. Aber trotzdem starben so viele, und so viele andere gerieten in Panik, dass manchmal Leute begraben wurden, bevor sie überhaupt tot waren.“
„Das ist ja grauenhaft.“
Sie drehte sich um und sah mich mit einer hochgezogenen Braue an. „Das kannst du laut sagen. Aber durch die einzigartige Beerdigungspraxis hier in der Stadt wurden die Krypten regelmäßig geöffnet, um neue Leichen hineinzubringen. Als man dann plötzlich Kratzspuren von Fingernägeln an den Türen entdeckte, hat sich jemand eine brillante Lösung ausgedacht.“
Die Glocke hörte abrupt auf zu schlagen, und die nachfolgende Stille war so intensiv, dass ich uns beide atmen hören konnte.
Cassandra deutete auf eine Krypta. „Sie haben auf den Dächern Glocken angebracht, mit einem Seil, das nach drinnen führt. Man hat den Menschen gesagt, falls sie plötzlich in einem dunklen, geschlossenen Raum aufwachen sollten, müssten sie bloß nach dem Seil tasten und die Glocke läuten. Der Friedhofswächter würde dann kommen und sie befreien.“
„Ziemlich clever.“
„Ja, die Idee war nicht schlecht“, stimmte sie mir zu. „Nur dass die Leute verständlicherweise hysterisch reagierten, wenn ihnen auf der Straße jemand begegnete, der erst wenige Tage zuvor beigesetzt worden war. Sie benutzten den Begriff Doppelgänger, um das Phänomen zu erklären.“
Ich dachte über die nun verstummte Glocke nach. „Wer hat dann also die eben geläutet?“
„Lass es uns herausfinden.“
„Lieber nicht.“ Ich grabschte nach ihrem Arm, aber sie war schon auf dem Weg.
Die Tür des Mausoleums lag auf der uns abgewandten Seite. Wir bogen ums Eck, als im selben Moment ein lautes Knarzen die nächtliche Stille zerriss.
Cassandra blieb so abrupt stehen, dass ich von hinten gegen sie rannte. „Das klang wie eine Tür“, raunte sie mir zu.
„Gibt es hier noch immer Friedhofswächter?“
„Nein.“
„Das hatte ich befürchtet.“
Wir spähten gemeinsam um die Ecke und entdeckten Charlie, der gerade einer Frau aus der Krypta half. Der Name auf dem Grabmal lautete Favreau . Ich speicherte die Information für später ab.
„Du schnappst dir ihn; ich übernehme sie“, befahl Cassandra und verließ ihre Deckung.
Charlie und die Frau knurrten uns an.
„Mrs Beasly“, entfuhr es mir.
Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie mich gehört hatte oder ob sie ihren Namen erkannte, sondern knurrte einfach weiter mit Charlie im Duett. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal geahnt, dass eine Person auf diese Weise knurren konnte, und obwohl Cassandra und ich zu weit weg standen, um jeden Zweifel auszuräumen, hätte ich alles darauf verwettet, dass beide Fangzähne hatten.
Cassandra warf mir einen neugierigen Blick zu. „Du kennst sie?“
„Die verschollene Bibliothekarin.“
Kein Wunder, dass sie sie nicht hatten finden können. Warum sollte man ausgerechnet in einem mit dem Namen Favreau gekennzeichneten Mausoleum nach ihr suchen?
„Ist sie tot?“, fragte ich.
„Hast du schon oft lebendige Menschen knurrend aus Gräbern steigen sehen?“
„In letzter Zeit nicht.“
Als die zwei nun auf uns zukamen, hob Cassandra rasch ihre Handfläche und legte ihre Lippen daran. Ich folgte ihrem Beispiel.
„Jetzt“, befahl sie.
Wir atmeten aus; das Pulver flog davon und besprenkelte ihre Gesichter mit blassgelben Partikeln. Als Charlie und Mrs Beasly stehen blieben und zu husten begannen,
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