Wolfsfieber
Bescheid weißt, wieso zum Teufel lässt
du mich dann fast eine halbe Stunde warten? Ah!“
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Geduld gehörte nicht zu Carlas Tugenden.
„Tut mir leid. Ich hatte, ehrlich gesagt, unsere Verabre-
dung vergessen. Es war ein blödes Versehen“, gestand ich ihr
unterwürfig und fand es gut, das Gespräch mit Aufrichtigkeit
zu beginnen, bevor ich mit den weniger aufrichtigen Details
weitermachen würde. Ich setzte mich endlich.
„Schon gut. Es passt nur nicht zu dir. Ich glaube, du hast
dich nicht mehr verspätet, seit wir in der 5. Klasse waren.
Was war eigentlich so wichtig, dass du unsere Verabredung
ganz verschwitzt hast?“, wollte sie von mir wissen. Genau die
Frage, auf die ich keine ehrliche Antwort hatte.
„Ich habe seit gestern Probleme mit dem Auto und
musste es heute zu meinem Bruder bringen. Er versucht, es
zu reparieren. Das hat mich so beschäftigt, dass ich unsere
Verabredung zum Mittagessen vergessen habe. Du kennst
mich ja, wenn ich mich über etwas ärgere, vergesse ich al-
les andere“, erklärte ich ihr mein Versäumnis und hoffte,
durch meine selbstironische Bemerkung ihr Interesse zu
zer streuen.
Es schien zu klappen, denn ihre rehbraunen Augen lä-
chelten mich hell an und lachend stieß sie hervor:
„Typisch Joe. In deiner Wut vergisst du sogar zu atmen!“
Ihr ganzer Körper bebte nun vor Lachen und sie musste
ein paar hellbraune Strähnen ihres langen, glatten Haares
aus ihrem Gesicht wischen. Sie waren ihr, durch das schal-
lende Gelächter, vor die Augen gefallen.
„Beruhige dich mal wieder. So witzig war das auch nicht.
Bei dir klingt das ja, als wäre ich Miss Jähzorn“, warf ich
etwas beleidigt ein und merkte erst jetzt, dass wir in unserer
gewohnten, lockeren Art herumalberten. Ich hatte mein Ziel
erreicht, ohne es gleich zu bemerken. Es herrschte Normali-
tät zwischen uns. Aber das hätte ich mir denken können.
Carlas Anwesenheit gab mir immer das angenehme Gefühl,
verstanden zu werden. Bei ihr konnte ich ganz ich selbst
sein, ohne Anstrengung. Das war genau das, was ich nach all
den ungewöhnlichen Ereignissen brauchte.
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„Was sollen wir denn essen? Mir ist nach Nasi-Goreng,
und dir?“, fragte sie mich und schmökerte in der riesigen
Speisekarte.
„Ich habe schrecklichen Hunger. Ich denke, das Acht-
Schätze-Menü ist da genau richtig.“
„Ja, das klingt auch gut. Ich werde mal einen Kellner be-
sorgen. Heute ist die Hölle los!“, sagte Carla und deutete auf
die vollen Mittagstische, die das kleine chinesische Lokal
kleiner wirken ließen, als es eigentlich war.
Carla machte sich zur Bar auf, die etwas zu bemüht auf
Chinesisch gestylt war, um unsere Bestellung abzugeben.
Sie brauchte nicht mal fragen, was ich trinken wollte. Sie
kannte meine Vorlieben auswendig. Ich wartete darauf, dass
sie zurückkommen würde, und bemerkte die vielen Mittags-
gäste, die beim Essen angeregt miteinander sprachen. Ich
fragte mich, worüber sie redeten. Wie viele von ihnen wa-
ren hierhergekommen, um Freunde zu belügen oder über
Tier-Menschen zu sprechen, die sie angefahren hatten? Be-
stimmt kein Einziger von ihnen. Ich kam mir plötzlich so
befremdlich vor und fühlte mich unwohl in meiner Haut.
Ich bekam den Eindruck, als müsse ich inmitten von Test-
personen eines Experimentes sitzen und wäre die Einzige,
die man eingeweiht hätte. Die Wahrheit, obwohl ich gerade
mal eine schemenhafte Vorahnung davon hatte, schien mich
schon jetzt von allen anderen zu isolieren. Eigentlich machte
mir das nicht wirklich etwas aus. Ich war nie der Gruppen-
Typ gewesen. Aber würde mich die Tatsache, dass Istvan Ge-
heimnisse hatte, auch von einer wahren Freundin isolieren,
die mir sehr viel bedeutete und die ich schon mein halbes
Leben lang kannte? Ich machte mir zu viele Gedanken und
ich neigte zum Grübeln, das wusste ich. Es würde schon
nicht so schlimm werden, wenn ich mich nur genügend an-
strengte.
Carla hatte unsere Order an den Mann gebracht und kam
auf mich zu. Es war mir noch immer unbegreiflich, wie mei-
ne beste Freundin ihre ganze Schulzeit lang denken konn-
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te, sie wäre kein Männertyp. Denn mindestens vier Männer
starrten ihr auf ihrem kurzen Rückweg hinterher. Aber keiner
von ihnen hatte eine Chance, denn Carla war bereits in fes-
ten Händen und wohnte seit drei Jahren mit Christian zu-
sammen. Er war Arzt im selben Krankenhaus, in dem Carla
als OP-Schwester arbeitete. Eigentlich war
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