Wolfsfieber
streifte die Plane vom alten, grünen
Jetta ab. Ich wusste, dass noch etwas Benzin im Tank sein
musste, da Viktor ihn ab und an fuhr. „Nur um den Motor bei
Laune zu halten“, wie er es formulierte.
Ich hatte Glück. Er sprang sofort an und ich bog schnell
aus der Einfahrt und fuhr in Richtung Dorf, denn unser Haus
lag etwas abgelegen, schon fast am Waldrand. Ich übertrat
etwas die Geschwindigkeitsbegrenzung und holte auf der
Landstraße tatsächlich 100 Sachen aus dem alten Jetta he-
raus. Als ich ihn dann auf Tempo 110 brachte, zitterte bereits
die ganze Karosserie. Es nützte alles nichts. Ich würde zu
spät kommen. Aber ich hatte wenigstens eine gute Ausrede,
dank des Jettas. Den wahren Grund, nämlich Istvan, würde
ich ihr leider verschweigen müssen. Doch wie macht man so
etwas? Wie belügt man seine beste Freundin, ausgerechnet
den Menschen, zu dem man bisher immer ehrlich war?
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4. Lügen lernen
Der Jetta raste von der Landstraße auf das kurze Stück der
Autostraße und polterte bei jedem einzelnen meiner Versu-
che, ihn auf 120 km/h zu beschleunigen. Ich würde so was
von zu spät kommen, das war klar.
Und ich hatte keine brauchbare Ausrede parat, die ich ihr
anbieten konnte. Nur eine Menge Ideen für diverse Lügen-
geschichten, von denen ich aber wusste, ich könnte Carla,
meiner besten Freundin, keine von ihnen erzählen, ohne von
nagenden Schuldgefühlen gepeinigt zu werden.
Aber das war vermutlich der Preis für die Bekanntschaft
eines so außergewöhnlichen Mannes wie Istvan. Man musste
bereit sein, Opfer zu bringen, wenn man seine Welt und sein
Geheimnis ergründen wollte, und das wollte ich unbedingt.
Es war ein Drang, den ich nicht im Mindesten unter Kon-
trolle hatte. Ich brannte darauf, alles über ihn zu erfahren.
Ich musste wissen, wo er herkam. Was es für ihn bedeutete,
ein Wolf zu sein oder, so wie er es eher andeutete, ein Wolf
sein zu müssen.
Aber er hatte recht. Ich durfte andere Menschen da nicht
mit hineinziehen.
Meine fixe Idee sollte niemanden außer mir selbst in
Gefahr bringen. Auf keinen Fall durfte jemand, der mir so
wichtig war wie Carla, in eine, wie auch immer geartete, Ge-
fahr geraten. Das könnte ich mir nie verzeihen. Ja, ich würde
lügen. Ich würde lügen, um zu beschützen. Wie auch Istvan
log und sich verbarg aus guten Gründen, die vielleicht sogar
ehrenwert waren.
Und doch, wie sollte ich ihr heute beim Essen gegen-
übersitzen und so tun, als wäre alles wie immer, als hätte sich
nicht meine ganze Welt über Nacht völlig verändert, als wäre
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ich noch die alte Joe, die unangebrachte Witze machte und
keine Geheimnisse vor ihr verbarg?
Langsam, eigentlich im Schritttempo, näherte ich mich der
Stadt. Wart war wie immer gut besucht. Es war Einkaufstag
und die Leute strömten nur so von Geschäft zu Geschäft.
Es gab deshalb kaum Parkplätze in der kleinen Stadt und
ich musste zum Ausweichparkplatz am Bahnhof fahren.
Alles um mich herum schien mein Zeitproblem noch zu
verschlimmern. Ich schnappte mir den ersten freien Park-
platz. Die engste Lücke, in die sich je ein abgefahrener,
dunkelgrüner Jetta gedrängt hatte, da war ich mir sicher. Ich
konnte kaum die Tür aufkriegen. Als ich mich vom Parkplatz
entfernte, fiel es mir dann doch auf. Mein antiker Jetta stach
unter den anderen Autos, polierten VWs, BMWs und Sko-
das, hervor wie ein bunter Hund mit drei Beinen. Viktor hät-
te sich prächtig über diesen Anblick amüsiert. Auch darüber,
dass ich wie ein aufgescheuchtes Huhn durch den Stadtpark
rannte und beim Überqueren der Hauptstraße fast ausge-
rutscht wäre. Ich war bereits zwanzig Minuten zu spät und
musste nur noch die Treppen hochhetzen, dann würde ich in
Carlas Gesicht sehen.
Ich erblickte sie sofort, als ich die Tür unseres Lieblings-
chinesen aufstieß. Sie war sauer. Ich hatte erfolgreich ver-
drängt, wie sehr sie Unpünktlichkeit hasste, und das zeigte
sie ganz deutlich, indem sie, in meine Richtung gewandt,
geziert auf ihre Uhr tippte. Beim Versuch, hastig zu ihrem
Tisch zu kommen, hätte ich beinahe den Kellner umgesto-
ßen, der dabei war, Essen zu servieren.
„Entschuldigung, mein Fehler“, gestand ich knapp und
drehte mich zu Carla um.
„Hi! Ich weiß, du hältst es für ein Zeichen von Unhöflich-
keit, wenn man sich verspätet, und ich weiß, ich hätte anru-
fen sollen …“, lamentierte ich. Doch sie unterbrach mich:
„Wenn du so gut
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