Wolfsfieber
geschwisterlich.
Sie hatte ja keine Ahnung, wie sehr sie sich in diesem
Punkt täuschte. Es gab niemanden auf der ganzen Welt wie
ihn und vielleicht nur ein paar „Menschen“, die ihm halbwegs
ähnlich waren. Ich dachte, ich hätte genug Abschreckendes
über Istvan verkündet, dass es in Zukunft unwahrscheinlich
wäre, dass sie mich noch mal nach ihm ausfragen würde.
Aber es war schon unheimlich, dass Carla bereits das
erste Mal, als ich ihn ihr gegenüber kurz erwähnt hatte, zu
merken schien, dass er etwas ihn mir auslöste.
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Zu meinem und zu Istvans Glück war ihre ansonsten gute
Intuition gegen meine Lügen nicht immun. Denn sie schien
mir wirklich abzunehmen, dass ich Istvan nicht ausstehen
konnte. Ich hatte also mein Ziel erreicht. Auch wenn ich dafür
meine beste Freundin anlügen musste, zum allerersten Mal.
Ich würde schon morgen Abend erfahren, ob es die Lü-
gerei wert war. Ob auch er sein Versprechen halten und mir
von sich und seinen Besonderheiten erzählen würde.
Noch war ich mir nicht sicher, dass er Wort hielt. Viel-
leicht würde er auch wieder verschwinden, genauso wie er
in mein Leben gekommen war, völlig aus dem Nichts. Was,
wenn er dahin zurückkehren würde? Darauf hatte ich keine
Antwort parat.
Ich aß meinen Nachtisch auf und hörte Carla zu, wie sie
von den neuen Möbeln erzählte, die sie sich zusammen mit
ihrem Freund angeschafft hatte. Größtenteils ließ ich sie reden
und versuchte, den halben Nachmittag lang nicht zu sehr an
Istvan zu denken. Ich war Carla sehr dankbar für die kleinen
Geschichten voller Normalität, die sie mir in ihrer lustigen
Art, erzählte, wild gestikulierend und bunt ausgeschmückt.
Sie erzählte von den schwierigen Operationen, bei denen
sie schon assistieren durfte, und von Christians neuestem
Beziehungs-Fauxpas, wie dem ständigen Fragen nach der
Notwendigkeit von zehn verschiedenen Paar Schuhen. Es
tat gut, mit Carla über ihr Liebesleben zu scherzen und sich
dabei ganz normal zu fühlen. Ich wusste ja nicht, wie normal
ich mich noch nach morgen Abend würde fühlen können.
Nach einem kurzen Anruf von Christian verabschiedete
sie sich und brachte mich noch zum Wagen. Ich umarmte sie
und sagte: „Wir sehen uns hoffentlich bald mal wieder.“
„Ja, klar. Selbe Stadt, selber Chinese!“, scherzte sie und
fragte mich verwundert:
„Sag mal, ist das etwa dein alter Jetta oder sehe ich Gespens-
ter? Den hast du doch seit der Schule nicht mehr gefahren. Ich
dachte, der wäre längst in der Schrottpresse gelandet!“, witzelte
sie weiter, als sie sah, dass sie mich damit drankriegen konnte.
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„Nicht du auch noch! Mein Jetta ist durchaus noch fahr-
tüchtig und der kommt nicht auf den Schrottplatz. Er ist die
Art fahrbarer Untersatz, die dir in einer Auto-Krise beisteht.
Einfach nicht tot zu kriegen eben!“, konterte ich und konnte
endlich einige Auto-Witz-Punkte wieder gutmachen.
Sie lachte schallend und winkte mir zum Abschied.
„Ich sehe dich bald. Mach’s gut, verrückte Jetta-Joe!“,
wünschte sie mir und ging zurück in den Park.
Auf der ganzen Heimfahrt, diesmal mit moderaten 80 ge-
fahren, dachte ich über die Lügen nach, die ich heute erzählt
hatte. Wie ich versucht hatte, Carla davon zu überzeugen, dass
Istvan mir egal sei. Was war weiter entfernt von der Wahrheit?
Ich hatte schon reichlich geflunkert, dabei aber nichts
so Schlimmes erzählt, dass ich Carla niemals wieder unter
die Augen treten konnte. Was blieb mir denn anderes üb-
rig, wenn ich uns alle beschützen und Istvan vor jeglicher
Verdächtigung bewahren wollte. Lügen war der einzige Aus-
weg. Niemand würde es auch nur ansatzweise verstehen,
noch nicht einmal die ansonsten aufgeschlossene Carla. Wie
könnte sie auch? Ich verstand es doch selbst nicht, wieso
ich bereit war, so viel für Istvan zu tun. Ich fühlte mich noch
nicht mal schuldig. Ich wusste irgendwie, dass ich ihm das
schuldete. Ich würde lernen müssen, damit zu leben. Mit
Lügen und allem, was noch kommen würde.
Nach einer guten halben Stunde war ich zu Hause an-
gekommen und verbrachte den Rest des späten Nachmittags
und den Abend mit dem Schreiben des Artikels zur Wildun-
fall-Pressekonferenz. Ich musste verdammt gut aufpassen,
in den Bericht nicht Istvans Namen einzutippen. In meiner
Erinnerung war er so sehr mit den Ereignissen dieser Nacht
verbunden wie der Regen mit den Wolken. Meine Finger
musste ich immer wieder daran
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