Wolfsfieber
Ich hab wohl etwas überreagiert. Es
war nur so ein verrückter Tag …“, fing ich an zu erzählen und
unterbrach mich schnell, bevor ich noch mehr verriet.
„Wieso denn, was war denn so verrückt?“, fragte sie natür-
lich weiter.
Derselbe kleine Kellner kam in diesem Moment mit den
riesigen Essensportionen zu unserem Tisch und türmte die
duftenden chinesischen Spezialitäten vor uns auf. Es war
mehr ein Essensberg als ein Menü, aber es kam gerade recht.
Ich war schon ganz ausgehungert und stürzte mich sofort auf
den Reis. Zum Glück lenkte gutes Essen Carla immer von
dem ab, was sie gerade machte, und ich war erst mal aus
dem Schneider.
Während Carla genussvoll und langsam ihr Reisgericht
aß, zwang ich das Essen im schnellen Tempo in meinen Ma-
gen und mir wurde fast übel. Aber immerhin hatte ich lan-
ge nichts gegessen und mein Körper schien nun nach allem
Essbarem zu gieren.
„Gott, du bist ja echt ausgehungert“, kommentierte Carla
mein etwas peinliches Essverhalten.
63
„Ja. Du weißt ja, Selbstversorgerin“, kommentierte ich
kurz und wandte mich wieder dem Hühnerfleisch zu, das
ich jetzt wieder genießen konnte.
Als wir fertig waren, hatte ich die riesige Portion völlig
vernichtet und Carla starrte mich an.
„Eigentlich bin ich doch die große Esserin von uns. Aber
heute hast du es mir gezeigt. Ich gebe es zu. Nachtisch?“
„Ja. Aber den werde ich nicht so hinunterstürzen, verspro-
chen“, versicherte ich ihr lächelnd und zauberte auch auf ihr
Gesicht ein leichtes Schmunzeln.
„Na gut. Aber den Nachtisch bestellst du.“
Ich winkte unseren Kellner herbei und orderte die flam-
bierten Bananen, die Carla hier immer bestellte. Während
wir auf das Dessert warteten, fand Carla wieder zu ihrer ur-
sprünglichen Absicht zurück und begann mich weiter aus-
zuquetschen. Ich wusste, dass es nur aufrichtiges Interesse
ihrerseits war und dass sie ja nicht ahnen konnte, dass sie
mich mit ihrer Fragerei in die Bredouille brachte.
„Was war denn gestern so schlimm? Jetzt rück schon raus
damit, du weißt, dass ich nicht locker lassen werde“, stellte
sie klar und erinnerte mich damit an unsere größte Gemein-
samkeit. Die absolut verbohrte Sturheit, die uns beide im-
mer verbunden hatte.
„Ich habe gestern diesen Istvan wiedergesehen. Den Bib-
liothekar, von dem ich letztens mal erzählt habe“, gestand ich
ihr und bereute gleich den Anfang meines Satzes. Sie hatte so-
fort angebissen, so wie ich ihn ihr damals beschrieben hatte.
„Und?“, fragte sie entflammt.
„Und nichts. Ich hab dir doch erzählt, dass er irgendwie
seltsam ist, oder?“
„Ja, die Sache mit dem Foto. Ich erinnere mich. Hat er es
aufgeklärt?“, wollte sie jetzt wissen, völlig in ihrem Element
als neugierige Freundin.
„Nein. Er hat sich mir gegenüber nur blöd verhalten, das
ist alles. Das regt mich immer noch auf. Er hat gestern, als
ich ihn wiedergesehen habe, so getan, als würde er sich nicht
64
an mich erinnern. So ein Mistkerl!“, sagte ich. Ihn auch nur
in einer Lüge zu beschimpfen, fiel mir schwer, weshalb mein
„Mistkerl“ auch etwas kraftlos wirkte.
„Wieso, denkst du, hat er das getan?“, fragte sie besorgt.
„Keine Ahnung. Ich habe dir doch gesagt, dass ich irgend-
wie einen Draht zu ihm habe?“ Ich wollte ihr Gedächtnis in
mein Lügengespinst einbauen.
„Ja. Du sagtest sogar, du hättest das Gefühl ihn zu ken-
nen“, erinnerte sie sich deutlich.
„Tja, das war wohl ein Fehler. Er scheint offenbar etwas
gegen mich zu haben. Soll mir nur recht sein, wenn er mit
jedem außer mir redet. Er ist sowieso nicht mein Typ. Ich
war wohl an dem Tag etwas durcheinander“, stellte ich, ge-
spielt sauer, klar.
Sie überlegte und sagte schließlich:
„Ist aber schon merkwürdig. Erst flirtet er mit dir und
jetzt macht er auf eiskalte Schulter. Schade, so wie du erst
von ihm erzählt hast, dachte ich schon, da würde sich was
anbahnen“, gestand sie mir etwas enttäuscht.
„Erstens habe ich nie behauptet, dass er bei der Eröffnung
mit mir geflirtet hat, und zweitens soll er doch mit sich selbst
tanzen. Ich geh dem Typ lieber aus dem Weg“, setzte ich noch
einen drauf und übertrieb die Istvan-Lügerei ein wenig.
„Ja, stimmt schon, du hast nichts von Flirten erzählt. Aber
so wie du von ihm gesprochen hast, dachte ich … Na was
soll’s. Vergiss den Kerl. Es gibt Tausende wie ihn“, verkünde-
te sie mir
Weitere Kostenlose Bücher