Wolfsfieber
außergewöhn-
lichen Umstände.
„Ich sollte auch versuchen, nach Hause zu gehen und et-
was Schlaf nachzuholen. Obwohl ich nicht weiß, wie ich das
anstellen soll“, stimmte ich ihm zu und fragte gleich darauf:
„Wann werden wir uns wiedersehen? Ich habe noch eine
Million Fragen an dich, wie du dir denken kannst.“
„Wie wäre es, wenn ich dich morgen Abend abhole? Ich
möchte dir etwas zeigen, damit du alles besser verstehen
kannst, und heute Abend passt das Wetter nicht“, sagte er
kryptisch.
„Morgen Abend dann. Das gibt mir genug Zeit, um mir
noch mal eine weitere Million Fragen zu überlegen“, scherzte
ich.
„So etwas hatte ich befürchtet. Aber vergiss nicht: zu nie-
mandem ein Wort. Was machst du eigentlich mit dem Wa-
gen?“, fragte er, besorgt, dass dieser ihn verraten könnte.
„Ich bringe das Auto zu meinem Bruder. Er ist Mecha-
niker und wird keine Fragen stellen. Schon deshalb, weil
ich ihm erzählen werde, dass ich eine Säule gerammt habe“,
merkte ich beruhigend an.
„Es tut mir so leid, dass du meinetwegen deinen Bruder
belügen musst.“
„Keine Sorge. Ich habe einen wirklich guten Grund dafür.
Ich kann Lügen eigentlich nicht ausstehen, aber in deinem
Fall kommt es mir fast wie eine noble Tat vor“, erklärte ich
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ihm, noch immer in der Absicht, seine Bedenken zu zer-
streuen.
„Es ist sehr rücksichtsvoll von dir, es so zu sehen. Danke
auch dafür, dass du nicht davongelaufen und mit den Dorf-
bewohnern im Schlepptau wiedergekommen bist, um mich
mit Fackeln aus der Gegend zu vertreiben“, neckte er nun
zurück.
Obwohl ich eigentlich gar nicht gehen wollte, machte
sein letzter, etwas gelöster Eindruck es mir etwas leichter,
mich doch zu verabschieden. Er ging mit mir zum Gartentor
und öffnete es zuvorkommend, wobei er leicht lächelnd „Bis
bald“ zu mir sagte.
Ich drehte mich langsam von ihm weg und ging in den
beginnenden Tag hinein, der mir nun vollkommen irreal vor-
kam.
Ich hatte es tatsächlich geschafft, ein paar Stunden zu schla-
fen. Wobei mich Träume von einem graubraunen Wolf ver-
folgten, der in einem dunklen, tiefen Wald auf mich zugelau-
fen kam, mich aber nie wirklich erreichte. Müder als vorher
stand ich auf und ging unter die Dusche. Das warme Wasser
und die vertraute Umgebung halfen mir dabei, wieder zur
Besinnung zu kommen. Was für eine Nacht! Was für ein
Morgen!
Ich hatte in den letzten Stunden mehr gesehen, gefühlt
und erfahren, als ich je für möglich gehalten hätte.
Mein ganzes Leben lief plötzlich in Highspeed, nachdem
es sich eine halbe Ewigkeit lang an Slowmotion gewöhnt
hatte. Und meinem Verstand fiel es schwer, damit Schritt
zu halten. Die Stille im Bad, abgesehen vom Plätschern des
Wassers, schien mir fast gespenstisch. Ich konnte den mor-
gigen Abend kaum erwarten. Was würde ich noch alles er-
fahren?
Was war es wohl, das er mir zeigen wollte? Wie sollte ich
nur die Zeit rumkriegen? Es schien eine halbe Ewigkeit bis
dahin zu sein.
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Sobald ich fertig geduscht hatte, nahm ich mir meine
Haare vor und föhnte sie trocken. Wieder einmal gelang es
mir nicht, das Mähnenhafte meiner goldblonden Haare ganz
wegzubekommen. Mit flotten Bewegungen legte ich etwas
Make-up auf und schminkte meine Lippen in einem leicht
rosa Ton. Für mehr fehlte mir, wie meistens, die Geduld.
Die Sachen, die ich gestern schmutzig gemacht hatte,
warf ich schnell in den Wäschekorb und schnappte mir eine
frische Jeans und mein hellblaues Hemd. Danach kramte
ich noch meine Lieblingsstiefel aus braunem Leder unter
meinem Bett hervor und schlüpfte hinein.
Ich war nun bereit, mich zum Haus meines Bruders auf-
zumachen, um meinen Teil der Abmachung zu erfüllen.
Er war zu Hause, das sah ich gleich an seinem Pick-up,
der vor dem Zaun geparkt stand. Ich musste mir nur noch
eine glaubwürdige Geschichte zurechtlegen und ihn dazu
bringen, das Auto unserer Eltern, das ich gestern geschrottet
hatte, zu reparieren. Seine Frau, eine kleine, zarte Person mit
kurzen, schwarzen Haaren, öffnete mir die Tür, nachdem ich
mehrmals ungeduldig geklingelt hatte. Ihr Name war Paula.
Sie begrüßte mich mit ihrem breiten Lächeln, das sie mir
meistens schenkte, woraufhin ich etwas unhöflich sofort zur
Sache kam.
„Hi! Ist der Meister zu Hause? Ich bräuchte was von
ihm.“
„Viktor, deine Schwester braucht etwas von dir. Kommst
du mal?“, schrie sie in das Haus hinein.
„Er kommt bestimmt
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