Wolfsfieber
hindern, zu schreiben: Er ist
ein Werwolf oder Wolf gesichtet.
Welche Ironie! Da war ich als Lokalreporterin auf die Sto-
ry des Jahrhunderts gestoßen und konnte sie nie jemandem
erzählen. Und zu meiner Schande wollte ich das auch gar
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nicht. Ich wollte ihn und seine Geheimnisse ganz für mich
allein. Ich wollte das mit niemandem teilen außer ihm.
Ich konnte die Spannung kaum noch aushalten. Deshalb
schlief ich die ganze Nacht lang unruhig. Es blitzten immer
wieder Bilder von Istvan auf, wie er nackt im Regen auf der
Straße lag. Ich sah ihn immer wieder vor mir, auf meinem
Küchenstuhl sitzend. In meinem Traum schreckte ich nicht
vor seiner Hand zurück und ließ es zu, dass seine Finger mei-
nen ganzen Arm entlangfuhren. Träumend hatte ich auch
den Mut, ihn auf dieselbe Weise zu berühren. Ich träumte
jedoch nicht davon, ihn zu küssen. Das war einfach unvor-
stellbar, im wahrsten Sinne des Wortes.
Im Laufe der Nacht veränderten sich die Bilder. Anstatt
mir zu zeigen, was bereits passiert war, zeigten sie mir Versio-
nen von dem, was bald passieren könnte. Einmal kam er auf
einem Feld neben dem Wald als Wolf auf mich zugestürzt
und biss in meine Kehle. Ich wachte irritiert auf. Erschro-
cken. Ich schalt mich in Gedanken aus. So eine lächerliche
Vorstellung. Er würde morgen Abend nicht als Wolf auftau-
chen. Der Vollmond war vorbei. Lächerlich. Ich zwang mich
weiterzuschlafen und schlüpfte tiefer unter die Decke. Doch
ich war hellwach und hatte Angst vor den Bildern, die mir
noch erscheinen würden, wenn ich es wagte, noch mal die
Augen zu schließen. Irgendwann am frühen Morgen gelang
es mir dann doch noch zu schlafen. Ich war völlig weggetre-
ten, als ich erst nach Mittag aufwachte, komplett erledigt.
Den ganzen Tag konnte ich mich auf nichts konzentrieren.
Mir blieb nur ein Artikel, eine einzige Musikkritik, zur Ab-
lenkung, sonst nichts.
Ich musste irgendetwas finden, das die Zeit bis zum
Abend schneller vergehen ließ, aber keinerlei geistige Fähig-
keiten erforderte. Hausarbeit!
So putzte ich den ganzen ersten Stock des Hauses. Ich
arbeitete mich vom Vorraum aus zur Küche, zu den Schlaf-
zimmern, zum Bad und Wohnzimmer vor.
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Ich war dabei gründlich und leider auch zu schnell. So war
es erst kurz nach drei, als ich damit fertig wurde. Am Ende
machte ich mich auch noch über die Wäsche her und dachte
dabei ständig an den verwunderten Ausdruck, den mein Va-
ter machen würde, könnte er mich jetzt sehen. Schließlich
weigerte ich mich ständig die Wäsche zu machen, da wir im-
mer noch keinen Trockner hatten und das ewig lange Bügeln
mich zur Verzweiflung brachte. Heute war ich dafür dankbar,
als hätte ich im Lotto gewonnen.
Gott, wie würde mein Vater Heinrich jetzt staunen. Seine
Joe bügelte die gesamte Wäsche der Woche, ohne zu mau-
len, und hatte dabei einen zufriedenen Ausdruck auf dem
Gesicht. Das würde ihm gefallen.
Ich vermisste ihn und seine praktische Art, die Dinge zu
sehen, die er an mich weitergegeben hatte. Ich stellte mir
gerne vor, wie meine Mutter und mein Vater vor der Chine-
sischen Mauer standen und mein Vater meiner Mutter er-
klärte, dass die Mauer einen durchaus praktischen Zweck
erfülle und nicht nur architektonisch sehr schön anzusehen
sei. Ich stellte mir das geduldige Gesicht meiner Mutter Es-
ther vor, die wieder einmal Vaters Vorträge über sich ergehen
lassen musste. Ich stellte mir gerne vor, wie glücklich sie sein
mussten, jetzt, da sie sich endlich ihren Lebenstraum erfül-
len konnten: die Welt zu sehen, und zwar die ganze.
Ihr halbes Leben hatten sie, mit Lehrtätigkeit, Kranken-
hausarbeit und der Erziehung von zwei Kindern, schwer ge-
schuftet und alles gespart, um jetzt, nach ihrer Pensionie-
rung, die ultimative Reise machen zu können: eine Weltreise
für fast ein ganzes Jahr. Der Gedanke an meine Eltern mach-
te mich traurig. Gleichzeitig war ich aber froh, dass sie nicht
gerade jetzt in meiner Nähe waren. Wer weiß, wie gefährlich
es seit letzter Nacht war, sich bei mir aufzuhalten!
Bald schon würde ich besser einschätzen können, worauf
ich mich eingelassen hatte.
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5. Neue Horizonte
Es war bereits vier Uhr. Lange konnte es also nicht mehr
dauern, bis Istvan vor meiner Tür stehen würde. Zeit genug,
um eine Bilanz über die letzten Tage zu ziehen. So konn-
te ich mich in Gedanken beschäftigen und die Unruhe des
Wartens etwas vertreiben. Was hatte
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