Wolfsfieber
Istvan in mir eine
Unsicherheit ausgelöst, die mein ganzes Wesen betraf. Ich
konnte fühlen, dass ich dabei war, mich zu verändern. Ich
hatte nur noch keine Vorstellung, wie sehr.
Es war nun kurz vor halb fünf. Lange konnte es nicht mehr
dauern. Er hatte Abend gesagt und dabei keine genaue Uhr-
zeit genannt. Das machte es etwas schwierig. Ich hatte be-
reits meine Schuhe an und saß in der Küche bei einer heißen
Tasse Kaffee.
Heute Morgen hatte ich verzweifelt nach der passenden
Kleidung für den heutigen Abend gesucht. Es gab ja nicht den
geringsten Anhaltspunkt, nach dem ich mich richten konnte.
Worauf sollte ich achten? Er wollte mir etwas zeigen. Aber
fuhren wir irgendwo hin oder spazierten wir zu Fuß? Würde
es lange dauern? Brauchte ich spezielle Schuhe dazu? Ich
wünschte, ich hätte ihn deshalb gefragt und mich nicht wie-
der einmal von seiner Gegenwart einschüchtern lassen.
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Nach langem Zögern entschied ich mich für eine graue
Skinny-Jeans, bequeme Boots, einen blauen Rollkragenpul-
lover und meine schwarze Lederjacke, die ich auf die Stuhl-
lehne in der Küche legte. So war sie leicht griffbereit. Handy
und Geld steckte ich in die Taschen der Lederjacke und
fragte mich, ob ich nicht noch mal ins Bad gehen sollte, um
mich besser herzurichten. Es schien mir eine gute Idee. Ich
öffnete meine Haare nochmals, nachdem ich ewig gebraucht
hatte, den Pferdeschwanz richtig zu stylen.
Mit schnellen Strichen bürstete ich meine Haare zum
hundertsten Mal und kam mir dabei extrem lächerlich vor.
Ich bereitete mich ja nicht auf eine Verabredung vor, son-
dern auf ein Interview der besonderen Art.
Es würde Istvan bestimmt völlig egal sein, dass ich es wie-
der mal nicht geschafft hatte, meiner blonden Mähne einen
Mittelscheitel zu verpassen, und die Haare, wie so oft, locker
nach hinten frisiert trug.
Ich gehörte eigentlich nicht zu den oberflächlichen
Frauen, die stundenlang im Bad an sich herumfeilten, bevor
sie dann wie aus dem Ei gepellt das Haus verließen. Doch
jetzt legte ich zum zweiten Mal den kirschroten Lippenstift
auf, der meine pfirsichfarbene Haut heller aussehen ließ.
Warum wollte ich für Istvan unbedingt gut aussehen?
Er hatte mich doch schon in übelster Verfassung gesehen.
Vom Regen zerzaust und mit tiefen Schatten um die Augen.
Wem wollte ich etwas vormachen und wieso?
Es war jetzt fünf. Die Uhr an meinem Handgelenk piepte
alle halbe Stunde und erinnerte mir so daran, wie spät es
war. In meinem Magen breitete sich ein flaues, aufgeregtes
Gefühl aus, das ich seit meinen Uni-Prüfungen nicht mehr
gehabt hatte. Das Gefühl, panische Angst vor dem Unge-
wissen zu haben, kam nun mit voller Wucht über mich. Wie
sollte ich mich nur heute ihm gegenüber verhalten und wie
sollte ich auf seine Erzählungen reagieren, ohne ihn zu ver-
schrecken oder mich selbst?
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Ich stand mit diesem panischen Ausdruck in den Augen
noch immer vor dem Badezimmerspiegel und der Anblick
von neulich Nacht trat nun wieder auf mein Gesicht. Ich war
vollkommen in meinen Befürchtungen gefangen und zuckte
erschrocken zusammen, als ich das laute Klopfen hörte. Es
kam von der Terrassentür. Jemand stand vor der Glastür des
Wintergartens. Es musste Istvan sein.
Er war früh dran. Ich hatte erst weit nach fünf mit ihm
gerechnet. Ich hetzte vom Bad ins Wohnzimmer und betrat
den Wintergarten mit den vielen Pflanzen und der Rattan-
garnitur. Es war sehr hell und ich konnte schon von Weitem
seine dunkle Silhouette vor dem durchsichtigen Glas ausma-
chen. Der schlanke Körper, der lange Rücken mit den brei-
ten Schultern, ich erkannte ihn sofort. Es konnte nur Istvan
sein. Ich betrat den Wintergarten und merkte, wie er sich da-
raufhin sofort umdrehte und mir sein Gesicht zuwandte. Er
musste meine Schritte auf dem Parkett gehört haben. Sein
Hörvermögen war bestimmt außergewöhnlich. Er lächel-
te mir durch das Glas zu und ich konnte sehen, dass auch
er versuchte, einen leicht nervösen Ausdruck zu verbergen.
Wenig erfolgreich. Man konnte seine Anspannung, trotz sei-
nes warmen, einladenden Lächelns, deutlich wahrnehmen.
Ich öffnete die Tür und stand, wie so oft, zu dicht vor ihm.
Ich war etwa zehn oder zwölf Zentimeter kleiner als er und
musste hochsehen, um ihn zu begrüßen. Dabei bemerkte
ich zum ersten Mal die schöne Form seines Unterkieferkno-
chens. Eine V-Form am Ende eines schlanken Halses mit
vielen dichten,
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