Wolfsfieber
mir über Bücher sprach, und wir waren oft, allzu oft,
anderer Meinung. Wenn wir dann über Bücher oder Auto-
ren stritten, war es nie unangenehm, ganz im Gegenteil, ich
hatte es noch nie so genossen, mit jemandem über etwas zu
diskutieren. Mit jedem weiteren Abend und jedem Besuch
in der Bibliothek lernte er mehr über meine Sturheit und
ich lernte aus seinen literarischen Neigungen, dass er sich
nur zu gern mit Figuren und Helden identifizierte, die mit
sich selbst im Konflikt standen. Heldenhafte Figuren lehnte
er ab, ebenso wie berühmte weibliche Figuren, die schwach
und unselbstständig waren. Das entsprach nicht seinem
Frauenbild, was ich ungewöhnlich fand für einen Mann, der
in den 30ern aufgewachsen war. Doch wie ich von seiner
Mutter Maria wusste, war sie eine starke, selbstständige
Frau. Von daher ergab es schon eher Sinn. Er favorisierte
deshalb ausschließlich willensstarke, ungewöhnliche Hel-
dinnen, auch wenn diese eher unmoralisch handelten. Eine
seiner amerikanischen Lieblingsheldinnen war die verbotene
Liebhaberin aus „Der Scharlachrote Buchstabe“. Ich teilte
seine Überzeugung, wobei meine liebsten Romanheldinnen
aus einer anderen Zeit stammten. Besonders schwärmte Ist-
van für Alexandre Dumas’ Kameliendame, die als unmora-
lische Frau ihren Liebsten wegstößt, um ihn zu retten. Er
liebte diese Figur schon aus dem Grund, weil sie die Vorlage
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zu seiner Lieblingsoper La Traviata lieferte. Er hatte sogar
mehrere Schallplatten über verschiedene Inszenierungen
von Verdis La Traviata. Seine absolute Lieblingsaufnahme
war die von 1953, da in dieser Inszenierung Maria Callas die
Violetta sang. Jedes Mal, wenn er mir diese Opernmelodien
vorspielte, besonders bei den Arien von Violetta, schweifte
sein grüner Blick in eine unendliche Weite und er bekam
einen ähnlich friedlichen Ausdruck wie beim Lesen eines in-
teressanten Buches. Dann fiel es mir am schwersten. Dann
war es fast unmöglich, ihn nicht zu berühren. Doch in diesem
Punkt hatte sich in unserer Freundschaft nichts geändert.
Wir berührten uns jetzt nicht mehr. Eigentlich nicht mehr
seit seinem Geständnis im Wald nach der ersten Verwand-
lungsnacht, von dem ich eigentlich nichts wissen durfte.
Es war frustrierend, so viel mit jemandem zu teilen, all
diese Geheimnisse und Gedanken, und dann immer nur mit
einer Armlänge Abstand beieinanderzusitzen. Ich fragte mich,
ob sich das je ändern würde oder ob von nun an die Konturen
unserer Freundschaft fest in Stein gemeißelt waren.
In der Zwischenzeit war es November geworden. Einer der
kältesten November, die wir je hatten. Es gab einen frühen
Wintereinbruch. So kam es, dass schon eine reichliche Menge
Schnee gefallen war, die nicht wie üblich wieder wegschmolz,
sondern den gesamten Wald bedeckte. Die Vollmondnäch-
te dieses Monats standen unmittelbar bevor und ich hatte
dieses Mal keinen Zweifel daran, dass ich bei Istvan bleiben
durfte. Ich würde ihm wieder beistehen, dessen war ich mir
ganz sicher, und ein Teil von mir hegte die leise Hoffnung,
dass auch dieses Mal eine kleine Unachtsamkeit von Istvan
die Anziehung zwischen uns erneut entfachen könnte.
In der ersten Nacht wartete ich in seinem Haus auf ihn.
Er kam direkt von der Bibliothek und hatte noch ein paar der
englischen Bücher auf dem Arm, die er wieder zurückstellen
musste. Es hatte sich tatsächlich jemand, außer mir selbst,
ein englisches Buch ausgeliehen. Ich konnte es kaum glau-
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ben. Ich war neugierig und er ließ mich einen Blick in die
Unterschriftenkarte werfen. Es war die Englischlehrerin des
Gymnasiums von Rohnitz. Das passte. Ich schüttelte amü-
siert den Kopf und Istvan stimmte in mein Grinsen mit ein.
In dieser Vollmondnacht waren seine Schmerzen zwar
schlimm, aber sie nahmen seinen Verstand nicht derart in
Anspruch wie sonst, sodass wir uns manchmal unterhalten
konnten. Ich hatte das Gefühl, es lenkte ihn ein wenig von
den körperlichen Qualen ab.
In dieser Nacht war etwas anders als sonst. Normalerwei-
se hatte es Istvan in seiner Wolfsform sehr eilig zu verschwin-
den. Seine Instinkte trieben ihn dann immer so schnell wie
möglich zu den nahe gelegenen Wäldern. Doch diesmal blieb
er etwas länger. Ich streichelte ihn, wie ich es bereits beim
allerersten Mal getan hatte. Ein wohliges Knurren bekam ich
als Antwort. Ich kniete mich daraufhin zu ihm hinunter und
ließ den Wolf seinen Kopf in meinen Schoß
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