Wolfsfieber
auf?
Ich fühlte, wie er näher an meine Seite herankam. Ein Arm
streifte über meinen Oberarm, ganz sanft. Eine Hand, seine
Hand, strich mir übers Haar. Ich konnte fühlen, dass sein
Gesicht über meinem war und mich betrachtete. Ich wagte
nicht einmal daran zu denken, jetzt die Augen zu öffnen. Ich
wurde an meinem Rücken von seiner Wärme durchdrungen
und konnte die Länge seines ganzen, menschlichen Körpers
fühlen. Seine Hand strich eine Strähne meines Haares von
meiner Wange hinter mein Ohr und er hauchte, beinahe un-
hörbar:
„Ich kann nicht glauben, dass du geblieben bist. Ich kann
nicht glauben, dass du noch da bist. Ich kann nicht glauben,
dass du es bist.“
Er entfernte sich wieder von mir und ich hörte, wie er
etwas von dem Wasser trank, das sich noch in der Kiste be-
fand.
Nun rührte ich mich ein wenig und ließ ihn wissen, dass
ich wach war. Er lächelte mich an. Der ganze Morgen eines
ganzen Lebens schien mich anzulächeln, neu und unver-
braucht. Keine Spur der Reue oder des Bedauerns auf sei-
nem Gesicht.
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Ich würde auch morgen wieder bei ihm sein dürfen und
auch in der letzten Nacht. Ich würde jeden Morgen wieder
da sein, um ihn abzuholen. Das wussten wir beide. Und so
kam es auch.
Ich kam jeden Abend und half ihm, so gut es ging, die
Schmerzen zu ertragen und am nächste Morgen holte ich
ihn vom Südlager ab, wobei er an den nachfolgenden Mor-
gen nie wieder so nahe an mich herankam wie an dem ersten.
Der einzige weitere Unterschied war, dass ich nun jedes Mal
den nackten Istvan auf mich zukommen sah, der seine Blöße
ungeschickt umfing, woraufhin mir jedes Mal die Schames-
röte ins Gesicht stieg und ich ertappt zu Boden starrte, um
ihm danach ungeschickt die Anziehsachen zu reichen.
Aber trotz allem war ich zufrieden. Ich hatte gesehen, was
ich sehen musste, und mein Versprechen gehalten. Ich wür-
de auch weiterhin seine Freundin sein und konnte ihn nun
noch besser verstehen. Das würde vieles leichter machen,
hoffte ich zumindest.
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8. Wolfsblut im Schnee
Seit den letzten Vollmondnächten hatte ich Istvan endlich
dazu gebracht, mir bedingungslos zu vertrauen. Er erlaub-
te mir sogar, manchmal am Abend vorbeizukommen, auch
wenn es etwas unvernünftig war. Deshalb ließ ich meinen
Wagen, den man wahrscheinlich sofort erkannt hätte, im-
mer zu Hause und ging über den Waldrandweg zu seinem
Haus. Ich nahm die Abkürzung über den Friedhof, wo zu be-
stimmten späten Stunden kein Mensch mehr zugegen war,
und ging weiter über den Hinterhof zu seinem kleinen, et-
was versteckten Garten, den man von außen kaum einsehen
konnte. Wieder einer dieser angeblichen Zufälle, die mir klar
machten, wieso er ausgerechnet die frühere Schule als sein
neues Zuhause gewählt hatte.
Ich hielt unsere neuen Gewohnheiten nicht für unver-
nünftig oder unvorsichtig, da ich nun nicht mehr täglich in
der Bibliothek auftauchte, was mir selbst schon verdächtig
vorkam. Außerdem konnte ich mir so seine persönlichen Sa-
chen genauer ansehen. Wir saßen die meiste Zeit im Wohn-
zimmer, wo er auch ein kleines Büro hatte, oder im Eng-
lischen Büchersaal, schließlich gab es dort die umwerfende
Plattensammlung, die ich auch nach Wochen noch nicht
vollständig ergründet hatte.
Meistens, wenn ich abends kam, suchte ich mir ein paar
Platten aus, die wir dann im Wohnzimmer mithilfe seiner
Hi-Fi-Anlage anhörten. Den kleinen Koffer-Plattenspieler
in seinem Schlafzimmer benutzten wir nie. Ich betrat das
Schlafzimmer ohnehin nur, wenn ich ihm half, die Verwand-
lungsschmerzen zu überstehen. Beim Abspielen der unzäh-
ligen Platten versorgte er mich immer mit gutem Rotwein
aus dem Burgenland oder Niederösterreich, den er extra
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für mich besorgte, denn Istvan trank nicht. Nicht etwa aus
Überzeugung, sondern weil, wie er mir einmal gestand, Al-
kohol auf ihn nicht die geringste Wirkung hatte, ebenso we-
nig wie Koffein. Wir passten unsere Unterhaltungen dabei
der Musik an. So sprachen wir beim Hören von Mozart oder
Beethoven über die Werke von Goethe und Schiller. Hörten
wir jedoch Jazz von Chet Backer oder Coltrane sprachen wir
über Beatnick-Autoren wie den Amerikaner Jack Kerouac
oder Anais Nin. Er kannte jedes Buch. Es war unglaublich.
Ich las auch viel, doch Istvan kannte jedes Buch, von dem
ich irgendwann einmal gehört hatte. Manche davon sogar
fast auswendig. Es war schwer für mich mitzuhalten, wenn
er mit
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