Wolfsfieber
legen. Und so
komisch es auch klingt, es erinnerte mich an unser Beieinan-
dersitzen auf dem Turm.
Anscheinend galt das Berührungsverbot nur für seine
menschliche Form, denn der Wolf Istvan schien weitaus zu-
traulicher zu sein. Bevor er diesmal über die Hecke sprang,
stupste er mich noch zum Abschied mit der Schnauze auf den
Handrücken. Wieder einmal sah ich einen wunderschönen
Wolf mit grünen Augen, sandfarbenen Flanken und grauwei-
ßem Fell in den Nachthimmel springen und in der Dunkel-
heit verschwinden. Ich war in dieser Nacht derart aufgedreht
und unruhig, dass ich nicht schlafen konnte. Also ging ich
mitten in der Nacht zu mir nach Hause, holte meinen Wa-
gen und fuhr zum Nordlagerplatz, da er mir gesagt hatte, er
würde dorthin kommen, um die Vorräte am Südlager noch
aufzustocken. Ich fuhr also mitten in der mondhellen Nacht
auf die Passhöhe des Geschriebensteines und schlief in mei-
nem Wagen. Dabei hörte ich die CD von La Traviata, die ich
mir bestellt hatte, als er mir von seiner Leidenschaft für die-
se Oper erzählt hatte. Ich entschied mich ebenfalls für die
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Callas-Version und musste zugeben, dass ihre Stimme etwas
hatte, das einen nicht wieder los ließ.
Es beschwor eine ganz besondere Stimmung herauf, die-
se Opernstimme auf einem von Wald und Nacht umgebenen
Parkplatz zu hören. Ich fragte mich, ob er die Musik durch
meinen Wagen hindurch hören konnte, wenn er in der Nähe
war, und wurde just in dem Moment von seiner Anwesen-
heit überrascht. Ich sah plötzlich einen Wolf am Anfang des
Wanderwegs auftauchen, der sich meinem Wagen näherte.
Ich öffnete die Wagentür, und obwohl ich wusste, dass der
Wolf Istvan war, zitterten meine Hände ein wenig. Vermut-
lich die instinktive Reaktion eines Menschen, der auf ein
Raubtier im Wald trifft, sagte ich mir selbst. Der Wolf blieb
auf halber Strecke stehen und machte den Eindruck, als ob
er auf mich warten würde.
Ich ließ den Wagen stehen, mit offener Tür, die Musik
verklang leise und verlor sich im Wald, in den Bäumen und
Hügeln.
Als ich ihn fast erreicht hatte, lief er ein paar Meter weiter.
Istvan wollte mich offenbar zum Nordlager führen. Ich ging
ihm nach und traf nach ein paar Minuten auf der kleinen
Lichtung ein. Jetzt war ich also im Zentrum des Waldstücks,
dem man den Namen Wolftanz gegeben hatte, weshalb auch
immer. Mein Wolf war jedenfalls dort und schien tatsächlich
zu tanzen. Er sprang aufgeregt hin und her, als warte er da-
rauf, mit mir zu spielen. Ich ging auf ihn zu und wollte, wie
üblich, die Hand nach ihm ausstrecken. Doch als ich ihn fast
erreicht hatte, lief er blitzschnell davon und tauchte hinter
mir wieder auf. Ich versuchte es noch mal, doch er war ein-
fach zu schnell, vollkommen in seinem Element. Es wurde
ein Spiel daraus und ich lachte, während er Freude daran
hatte, immer mal wieder hinter einem Baum hervorzukom-
men oder plötzlich von einem Felsen zu springen. Ich wurde
langsam müde, es mussten ja schon drei oder vier Uhr sein,
und holte die Decke aus der Kiste. Eigentlich hatte ich er-
wartet, dass er, sobald ich mich hinlegte, davonlaufen würde.
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Doch er gesellte sich zu mir, seinen Unterkiefer auf meinen
Bauch legend. Ich schlief irgendwann ein, während ich noch
immer seinen Kopf kraulte. Als ich am Morgen aufwachte,
lag aber nicht der Kopf eines Wolfes auf meinem Bauch, son-
dern ein Kranz aus Zweigen und Blättern, wie Kinder ihn
basteln, wenn sie sich im Wald langweilten, während ihre
Eltern die Waldarbeit erledigten.
Und neben mir lag Istvan, nackt, auf seinem Bauch. Er
hielt den Kranz, den er für mich geflochten hatte, in der
Hand, als hätte er noch eine Sekunde zuvor daran gearbeitet.
Ich zwang mich, meinen Blick nicht seinen Körper entlang-
wandern zu lassen, und blickte stattdessen in sein Gesicht.
Er machte einen friedlichen, schlafenden Eindruck. Istvan
schien so sehr mit dem Wald verbunden. Es war kaum zu
glauben. Jeder andere nackte Mann hätte hier völlig fehl
am Platz gewirkt. Aber Istvans Anwesenheit im Wald schien
ganz natürlich. Seine grünen Augen, das sandfarbene Haar
und die leicht gebräunte Haut. All das schien hierher zu ge-
hören. Es war schwer, das nicht zu bemerken, auch wenn er
es vermutlich leugnen würde. Ich berührte ihn ganz leicht
an der brennenden Schulter, um ihn zu wecken. Die erste
menschliche Berührung zwischen uns seit Wochen, schoss
es mir durch den Kopf. Ich
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