Wolfsfieber
schweifte hinauf zum rie-
sigen Mond, der mir in dieser Nacht mächtiger und myste-
riöser denn je erschien.
Ich ging zurück ins Haus und ließ mich, völlig von den
Ereignissen überwältigt, ins Bett fallen. Istvans Geruch war
noch überall. In den Kissen, auf der Bettdecke und in den
Laken. Das löste in mir wieder dieses Geborgenheitsgefühl
aus, das ich von unserem Zusammensein auf dem Aussichts-
turm her noch gut kannte. Ich sank sofort in tiefen Schlaf,
der nur aus reiner Not über einen kommt.
Ich erwachte erst kurz vor dem nächsten Morgen und
hatte das Gefühl, aus einem Totenschlaf zu erwachen. Ich
hätte geschworen, nur für eine Sekunde die Augen geschlos-
sen zu haben, und doch waren Stunden vergangen.
Die Zeiger auf dem Wecker neben dem Bett bewiesen
es mir. Es war bereits Morgen. Vier Uhr und fünfundvierzig
Minuten. Zeit aufzubrechen, wie ich es versprochen hatte.
Ich ging zu meinem Wagen, der noch immer vor der Bü-
cherei parkte – eine kleine Unachtsamkeit von mir, zumin-
dest was die Geheimhaltung anbelangte. Aber darum küm-
merte ich mich nun kaum.
Ich überprüfte, ob der Plan auch noch in meiner Jacken-
tasche war, und stieg in mein Auto. Dann fuhr ich dieselbe
Strecke, als würde ich zu mir nach Hause fahren, mit dem
Unterschied, dass ich vorher links in Richtung Waldgebiet
zum Steinbruch abbog. Die Straße zu den Felsen war etwa
zwei Kilometer lang, vielleicht auch länger, und endete in
einer Sackgasse, wo ich den Motor abstellte. Der Wagen
stand jetzt mitten vor einem kleinen Felsen. Der eigentliche
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Steinbruch lag auf der linken Seite. Auf dieser Seite war eine
tiefe, bewaldete Schlucht, die am Bach endete. Darüber be-
fand sich eine steile Anhöhe im Wald, auf deren Spitze die
ersten Felsen des Steinbruchs mit dem tiefen Felssprung in
der Mitte zu sehen waren. Wie er mir gesagt hatte, ging ich
die Anhöhe auf der rechten Seite der Straße hinauf, sie war
weniger steil als die andere. Am Felsen bog ich links ab und
ging tiefer in den Wald. Dort sah ich ein kleines Holzkreuz,
das jemand aus Ästen gebastelt und auf den Waldboden ge-
legt hatte.
Ich stand daneben und sah mich um. Es dauerte nicht
lange, da entdeckte ich die vergrabene Kiste. Ich brauchte
einige Kraft, um den Deckel aufzubekommen, da das Laub
und die Erde darauf es mir erschwerten.
Darin fand ich einige Decken, Kleidung, Wasser und zwei
Zelte. Es war zwar nicht mehr dunkel, aber die Sonne war
noch nicht aufgegangen und ich wusste nicht, wie lange es
dauern würde, bis Istvan es bis hierher schaffte. Deshalb
nahm ich eine der Decken, breitete sie auf dem feuchten
Waldboden aus und setzte mich darauf. Das Laub raschelte
bei jeder meiner Bewegungen. Der ganze Wald war voller
morgendlicher Geräusche. Zwitschernde Vögel, rauschende
Bäume, raschelnde Blätter und überall dieser frische, feuch-
te Waldgeruch. Ich nahm mir eines der Kapuzensweatshirts,
die in der Kiste waren, denn ich hatte meine Jacke im Auto
vergessen und es war etwas kalt. Das graue Sweatshirt war
mir natürlich viel zu groß, aber es wärmte hervorragend. Ich
fühlte erneut die Müdigkeit über mich kommen und legte
mich auf die Decke. Da oben bot sich mir ein Anblick voller
raschelnder, tanzender Blätter. Ein Meer von Grün bewegte
sich über mir und das gleichmäßige Geräusch schlummerte
mich ein. Ich drehte mich zur Seite, faltete meine Hände zu-
sammen, damit ich auf sie einigermaßen mein Gesicht legen
konnte, und schlief leicht ein.
Ich konnte nicht sagen, wie lange ich so gelegen oder ge-
schlafen hatte, doch nach einiger Zeit fiel mir, noch immer
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im Dämmerzustand und mit geschlossenen Augen, auf, dass
die Geräusche des Waldes abgeklungen waren. Keine zwit-
schernden Vögel und keine anderen Tiergeräusche waren
mehr zu hören. Ich öffnete nicht die Augen, obwohl ich fühl-
te, dass ich nicht länger allein war. Unmöglich zu sagen, ob
die Geräusche auf dem Laub von Füßen verursacht wurden
oder von Pfoten, aber ich hörte jemanden oder etwas in der
Kiste kramen. Kurz danach kam das Geräusch auf mich zu.
Das Erste, was ich wusste, war: Es war Istvan. Der Honig-
Wald-Geruch war um mich herum. Aber in welcher Form er
sich noch befand, konnte ich nicht sagen. Jemand trat auf
die Decke. Istvan.
Ich fühlte, wie sich ein warmer Körper neben mich legte.
An meiner Seite lag nun Istvan. Wieso weckte er mich nicht?
Wieso machte ich nicht die Augen
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