Wolfsfieber
das
kleine Nebenzimmer des Gashauses, das um diese Zeit im-
mer leer war.
Er setzte sich gleich auf den ersten Stuhl, während ich
vor ihm stehen blieb. Ich konnte unmöglich die Ruhe zum
Sitzen finden.
„Es geht um die Meyer-Schafe. Der Bürgermeister hat er-
zählt, Sie hätten eine Abschussgenehmigung für einen toll-
wütigen Wolf. Wissen Sie, was ich meine?“, fragte ich mit
einem ungeduldigen, dringlichen Ton.
„Ach, Sie sind diese Reporterin von dem Lokalblatt!“
Seine unbekümmerte, belustigte Art ging mir immens auf
die Nerven.
„Ja, die bin ich. Was ist nun mit dem Abschuss?“
„Vier meiner Jäger sind auf der Lauer. Wir werden das
Mistvieh bestimmt erwischen. Das ist so gut wie sicher.“
Am liebsten hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Ich hat-
te doch genau davor Angst. In ein oder zwei Stunden würde
Istvan zum Wolf werden und in einem Wald herumlaufen, in
dem vier bewaffnete Männer nach einem Wolf suchten. Der
Gedanke drehte mir den Magen um.
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„Wo genau haben sich die Jäger postiert? Zeigen Sie es
mir hier auf der Karte“, wies ich ihn an und legte die Karte,
die ich von Istvan hatte, auf den Tisch.
„Wieso wollen Sie das wissen? Sind Sie wahnsinnig? Sie
können doch jetzt nicht dahin. Das ist viel zu gefährlich für
einen Menschen, vor allem jetzt, da es bald dunkel ist“, blaff-
te er mich an. Sein Hut rutschte dabei fast vom Kopf.
„Zeigen Sie mir nur die Stellen.“
Er tippte auf vier Stellen. Zwei lagen in der Nähe der
beiden Lagerplätze. Die anderen waren weniger gefährlich.
Eine lag bereits zu sehr südlich und die andere war ein Jäger-
stand mit einer Futtergrippe, von dem ich wusste, er würde
ihn sowieso meiden, da dort Rehe anzutreffen waren.
„Danke“, murmelte ich kaum hörbar und stürzte ohne
weitere Erklärung wieder hinaus. Ich nahm mir den Kugel-
schreiber meines Reporterblocks und zeichnete die Stellen
auf der Karte ein.
Es war schon nach sechs. Istvan befand sich jetzt ir-
gendwo da draußen in den Wäldern und krümmte sich vor
Schmerzen. Ich beschloss als Erstes, die beiden Lagerplätze
abzuklappern. Zuerst nahm ich mir den weiter abgelegenen
Nordplatz vor. Auf der kurvigen Fahrt den Geschriebenstein
entlang wäre ich fast mehrmals von der Straße abgekommen.
Ich musste, gegen meinen Willen, die Geschwindigkeit dros-
seln, aber tot nützte ich Istvan auch nichts. Ich bog auf den
Besucherparkplatz ein, wobei der Kies unter mir fast zerbrö-
selte, so heftig jagte ich die Reifen darüber. So schnell ich
konnte, lief ich das kurze Stück bis zum Lagerplatz entlang,
das mir jetzt endlos vorkam. Doch ich konnte schon von Wei-
tem sehen: kein Istvan. Ich stellte mich in die Mitte der klei-
nen Lichtung und schrie laut seinen Namen und zählte da-
bei auf sein unglaubliches Gehör. Doch nichts. Ich wartete
fast eine halbe Stunde, nur um sicher zu gehen. Die längsten
dreißig Minuten, die ich mir vorstellen konnte. Aber es kam
nichts. Ich konnte nicht länger meine Zeit verschwenden.
Es wurde bald sieben. Die Zeit zerrann mir zwischen den
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Fingern. Ich checkte noch mein Handy, obwohl es unmög-
lich war, dass er doch noch anrief. Keine Nachrichten, wie
erwartet. Ich stieg wieder in das Auto, jagte die Gebirgsstra-
ße hinunter und wäre dabei fast in einer Haarnadelkurve in
den Graben gefahren. Mein Herz setzte kurz aus und mein
Atem blieb mir im Halse stecken. Ich kümmerte mich aber
nicht darum. Ich hatte anderes im Kopf als meine Sicherheit
und mein Wohlbefinden. Ich startete erneut, unter ein paar
wüsten Fluchattacken, den Wagen und fuhr weiter bis zum
Steinbruch. Dort hetzte ich die vertraute Anhöhe hinauf, wo-
bei mir das Laufen schon deutlich schwerer fiel. Endlich,
als ich das Südlager erreichte, sah ich die Decke auf dem
Boden und hoffte schon, ihn endlich gefunden zu haben.
Aber sowohl die Decke als auch seine Kleidung waren be-
reits eiskalt und nass von dem Schnee, auf dem sie lagen.
Er musste sich früher verwandelt haben. Es war November
und es wurde zeitig dunkel. Außerdem trafen hier draußen
die Mondstrahlen viel eher auf ihn. Verdammt. Wie sollte
ich ihn jetzt noch finden? „Istvan!“ Ich schrie wieder seinen
Namen, der vom nahen Steinbruch widerhallte. Das musste
er doch hören. Ausgerechnet er. Doch ich bekam keine Re-
aktion, keine Antwort.
Ich stolperte zurück zum Auto und fiel dabei ungeschickt
den Hügel hinunter. Meine Jeans war nun dreckig und
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