Wolfsfieber
nass
von dem matschigen Schnee. Ich fühlte die Kälte jedoch
kaum. Die Aufregung ließ mich innerlich brennen. Was
jetzt?
Ich nahm mir die Karte vor und fuhr jede der Jagdstel-
lungen ab. Zuerst die näheren, dann die fernen. Es war zum
Verzweifeln. Immer dasselbe. Ich kam da an, sah den Hoch-
stand und konnte sogar aus der Entfernung den Jäger darin
ausmachen, aber kein Istvan und kein anderer Wolf in der
Nähe. Irgendwann in dieser Nacht gab ich die Logik mei-
ner Aktionen auf und fuhr nur noch ziellos immer dieselben
Strecken ab. Alles Waldwege und größere Gebirgsstraßen,
auf denen man mit dem Wagen fahren konnte. Immer wie-
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der blieb ich stehen, rief seinen Namen, wartete eine Weile
und wurde enttäuscht. Ich konnte Istvan einfach nicht fin-
den. Es war, als wäre er vom Erdboden verschluckt oder, aber
diesen Gedanken ließ ich nicht gelten, als hätte ihn einer der
Jäger schon erwischt. Jedes Mal, wenn mir dieser Gedanke
durch den Kopf ging, musste ich stehen bleiben oder den
Wagen stoppen und ein verzweifeltes Würgen unterdrücken.
Einmal mischte sich zu dem Gedanken ein grausames Bild
eines getöteten Istvans hinzu. Da gab es kein Halten mehr.
Ich stützte meine Hände am Steinbruch ab, wo ich mich
gerade befand, und ließ den Kopf hängen. Hätte ich etwas
im Magen gehabt, hätte ich mich mit Sicherheit übergeben.
Aber so stand ich nur mit zusammenkrampfendem Magen
da und hustete und würgte staubige, kalte Luft. Ich war am
Ende und die Nacht war noch nicht mal annähernd vorüber.
Ich setzte mich wieder in den Wagen und fuhr noch zweimal
den gesamten Geschriebenstein ab. Ohne Erfolg.
Es war etwa um halb fünf, ich war gerade wieder zum
Südlager gekommen, als mir auf der Straße dorthin das Ben-
zin ausging. Ich musste die halbe Strecke laufen. Ich war
eigentlich nur noch ein Wrack und quälte meinen Körper
zum unzähligsten Mal den Hügel hoch. Bis ich es zum Mar-
kierungsfelsen geschafft hatte, war ich schon kurz davor zu-
sammenzuklappen. Doch ich machte weiter. Ich ging wei-
ter, immer weiter. Dabei fielen mir jetzt immer wieder die
Frost-Zeilen ein, die ich atemlos vor mich hin stammelte wie
eine Geisteskranke. „Der Wald ist lieblich, dunkel, tief, doch
ich muss tun, was ich versprach, und Meilen gehen, bevor ich
schlaf, und Meilen gehen, bevor ich schlaf.“
Immer weiter wiederholte ich den letzten Satz, bis meine
trockene Kehle zu sehr schmerzte und ich damit automa-
tisch aufhörte. Es war wie ein Gebet, das ich in Gedanken
vor mich hinsagte, um immer weitergehen zu können. Und
noch funktionierte es. Ich war wieder am Südlager, hielt dort
jedoch gar nicht mehr an, sondern ging weiter. Ich glaubte in
Richtung des Jägerstandes, war mir aber überhaupt nicht si-
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cher. Ich stolperte ziellos im Wald umher. Immer wieder fiel
ich jetzt hin. Meine Jeans war vom nassen, kalten Schnee
schon ganz feucht und die bleiernen Stulpen machten das
Weitergehen immer schwerer. Aber ich ging und ging immer-
fort. Ich war so geschwächt, dass ich gar nicht mehr versuch-
te, meine häufigen Stürze mit den Armen abzufangen, son-
dern meinen Körper einfach in den Schnee sinken ließ wie
einen Sack auf den Boden. Ich hatte auch keine Winterjacke
an, sondern nur diesen dünnen Parka, und die Kälte kroch
mir in die Knochen. Ich konnte seinen Namen kaum noch
schreien, der Atem dazu fehlte. Aber aufhören konnte ich
auch nicht. Also flüsterte ich. Je länger ich so vor mich hin
ging, ziellos und verzweifelt, desto mehr Bilder quälten mei-
ne Seele. Ich sah einen angeschossenen Wolf vor mir, dessen
Blut sich über den Waldboden ergoss, und ich schrie laut
auf. Offenbar war ich im Gehen eingeschlafen. Ich konnte
nun meine Gliedmaßen nicht mehr fühlen. Ich konnte nicht
sagen, ob mir kalt war oder nicht. Meine Beine und Arme
waren vollkommen taub. So fühlte ich wenigstens nicht die
Steine, auf die ich fiel, und die Äste, die sich mir in die Arme
und die Schultern bohrten. Meine Haare waren so feucht
von dem beginnenden Morgentau, dass ich das Gefühl hatte,
Wasser ränne mir vom Kopf. Ich würde den Mann verlieren.
Den Mann, von dem ich nun wusste, dass ich ihn liebte.
Und doch. Obwohl ich ihn nirgendwo ausmachen konnte
und es bereits Morgen wurde, es durfte nicht wahr sein. Er
konnte nicht tot sein. Nicht er. Das konnte, das durfte nicht
wahr sein. Ich würde es nicht zulassen und wenn ich bis in
alle Ewigkeit durch den
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