Wolfsfieber
hübsche Frau, etwas mollig,
wie es zu dieser Zeit üblich war. Sie trug ein schlichtes, helles
Kleid und ein Tuch auf dem Kopf. Sie hatte lockiges Haar. Das
Foto war vor einem Feld aufgenommen. Istvan lächelte darauf
nicht. Er sah ernst aus und hielt den Korb vom Körper.
Der Anblick des Fotos traf Istvan ganz tief im Inneren,
das konnte man sehen. Er setzte sich zurück in den Sessel,
als wäre die ganze Kraft aus seinem Körper gewichen. Istvan
legte das Bild ganz vorsichtig auf den Tisch, drehte mir dabei
den Rücken zu. Er starrte sich und seine Mutter Maria ein
paar Minuten an. Ich wagte nicht mal zu atmen, geschweige
denn mich zu bewegen.
Seine beiden Hände stützten nun seinen Kopf. Er fuhr
fassungslos mit der Hand durch seine Stirnhaare. Als er sich
umdrehte, wäre ich fast zurückgewichen, so erschreckte
mich seine wiederkehrende Bewegung.
Ich stand hinter ihm, während er, noch immer sitzend,
das Foto fixierte. Seine Hand legte er jetzt auf die Stuhllehne.
Ich kniete mich hin und sah ihm direkt in die Augen. Ich ver-
meinte eine Träne in der Ecke seines Auges zu sehen. Er
blickte mich lange und fest an. Was wollten mir seine Augen
sagen? Ich wartete nicht lange auf die Antwort.
Er strich mit seiner Hand über meine Wange und hauch-
te ein „Danke“. Das aufrichtigste „Danke“, das ich je gehört
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hatte. Dann wandte er sich wieder dem Foto zu. Ich zog mich
leise zurück und ließ Istvan allein mit seiner wiederentdeck-
ten Kindheit und dem Anblick seiner Mutter auf dem ver-
blichenen Fotopapier. In der kühlen Abendluft fühlte meine
Wange wieder die Erinnerung seiner Berührung, die jetzt,
durch den kalten Wind, auf meiner Haut brannte.
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10. Das Notizbuch
Ich hatte Istvan zwei volle Tage lang nicht gesehen. Das Un-
glaubliche, es geschah mit voller Absicht. Ich mied die Bib-
liothek. Ich kam nicht an seinem Haus vorbei. Ich brauchte
Zeit, Zeit um nachzudenken. Zu viel war in zu kurzer Zeit
geschehen. Das Unfassbare, es schien ihn gar nicht zu stö-
ren, denn er rief nicht an. Es wunderte ihn offenbar gar
nicht, dass ich ihn plötzlich nicht mehr umschwärmte wie
die Motte das Licht. Brauchte auch er Abstand und Zeit
oder hatte es damit zu tun, dass ich ihn in dieses Notizbuch
schreiben sah? Ich konnte an nichts anderes mehr denken.
Dieser ertappte, erschrockene Ausdruck ging mir nicht mehr
aus Kopf. Was stand bloß in diesem schwarzen Buch, das ich
auf keinen Fall lesen sollte?
Doch obwohl dieser Gedanke mich am hartnäckigsten
verfolgte, gab es da auch noch andere Vorfälle, die mich auf
Abstand gehen ließen. Ich konnte seine Worte von Martini
nicht vergessen: „Ein Blinder würde sonst sehen, dass et-
was zwischen uns ist.“ Hatte er das genauso gemeint, wie
es klang? Und dann seine leichtsinnige Geste, vor allen an-
deren. Er war dieses immense Risiko eingegangen, nur um
flüchtig meine Hand zu halten. Ich hatte zu viele wider-
sprechende Signale und Hinweise, die er mir gab. Als hätte
ich ein vollständiges Puzzle, alle Teile wären vorhanden und
doch schienen sie nicht recht zusammenzupassen. Wann
würde ich endlich das vollständige Bild sehen?
Den Morgen und fast die ganze Nacht dieser zwei Tage
verbrachte ich nur damit, aus dem Fenster zu starren, meis-
tens in den schweren Regen, und meinen unzusammenhän-
genden Gedanken nachzugehen.
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Hunderte Male hatte ich mir eingeredet, dass ich dieses No-
tizbuch in die Finger kriegen müsste, nur um es mir gleich
danach wieder auszureden. Er würde mir doch nie wieder
vertrauen. Es kam also nicht infrage und doch, der Gedanke
war da. Er setzte sich in mir fest wie ein Parasit, um mich
nachts zu verfolgen bis in die tiefsten Winkel meiner Träume.
Jede Nacht sah ich dasselbe Bild. Ich betrat sein Schlafzim-
mer, sah Istvan in das Notizbuch schreiben. Als ich gesehen
hatte, was ich nicht sehen sollte, schrie er mich im Traum
an und sperrte mich aus. Ich hämmerte wie verrückt gegen
die Tür, doch er ließ mich nicht wieder herein. Ich wachte
schweißgebadet auf, jedes Mal.
Morgens wurde ich erneut enttäuscht, denn ich hatte
keine Nachricht von ihm. Was hatte ich bloß verbrochen,
um sein Schweigen zu verdienen? Er hatte sich doch so ge-
freut über das Bild seiner Mutter. Istvan war im Innersten
ergriffen gewesen, das konnte man nicht falsch verstehen.
Bestrafte er sich und mich etwa dafür, dass er an Martini zu
weit gegangen war, dass er zu viel von
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