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Wolfsfieber

Wolfsfieber

Titel: Wolfsfieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Adelmann
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hübsche Frau, etwas mollig,
    wie es zu dieser Zeit üblich war. Sie trug ein schlichtes, helles
    Kleid und ein Tuch auf dem Kopf. Sie hatte lockiges Haar. Das
    Foto war vor einem Feld aufgenommen. Istvan lächelte darauf
    nicht. Er sah ernst aus und hielt den Korb vom Körper.
    Der Anblick des Fotos traf Istvan ganz tief im Inneren,
    das konnte man sehen. Er setzte sich zurück in den Sessel,
    als wäre die ganze Kraft aus seinem Körper gewichen. Istvan
    legte das Bild ganz vorsichtig auf den Tisch, drehte mir dabei
    den Rücken zu. Er starrte sich und seine Mutter Maria ein
    paar Minuten an. Ich wagte nicht mal zu atmen, geschweige
    denn mich zu bewegen.
    Seine beiden Hände stützten nun seinen Kopf. Er fuhr
    fassungslos mit der Hand durch seine Stirnhaare. Als er sich
    umdrehte, wäre ich fast zurückgewichen, so erschreckte
    mich seine wiederkehrende Bewegung.
    Ich stand hinter ihm, während er, noch immer sitzend,
    das Foto fixierte. Seine Hand legte er jetzt auf die Stuhllehne.
    Ich kniete mich hin und sah ihm direkt in die Augen. Ich ver-
    meinte eine Träne in der Ecke seines Auges zu sehen. Er
    blickte mich lange und fest an. Was wollten mir seine Augen
    sagen? Ich wartete nicht lange auf die Antwort.
    Er strich mit seiner Hand über meine Wange und hauch-
    te ein „Danke“. Das aufrichtigste „Danke“, das ich je gehört
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    hatte. Dann wandte er sich wieder dem Foto zu. Ich zog mich
    leise zurück und ließ Istvan allein mit seiner wiederentdeck-
    ten Kindheit und dem Anblick seiner Mutter auf dem ver-
    blichenen Fotopapier. In der kühlen Abendluft fühlte meine
    Wange wieder die Erinnerung seiner Berührung, die jetzt,
    durch den kalten Wind, auf meiner Haut brannte.
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10. Das Notizbuch
    Ich hatte Istvan zwei volle Tage lang nicht gesehen. Das Un-
    glaubliche, es geschah mit voller Absicht. Ich mied die Bib-
    liothek. Ich kam nicht an seinem Haus vorbei. Ich brauchte
    Zeit, Zeit um nachzudenken. Zu viel war in zu kurzer Zeit
    geschehen. Das Unfassbare, es schien ihn gar nicht zu stö-
    ren, denn er rief nicht an. Es wunderte ihn offenbar gar
    nicht, dass ich ihn plötzlich nicht mehr umschwärmte wie
    die Motte das Licht. Brauchte auch er Abstand und Zeit
    oder hatte es damit zu tun, dass ich ihn in dieses Notizbuch
    schreiben sah? Ich konnte an nichts anderes mehr denken.
    Dieser ertappte, erschrockene Ausdruck ging mir nicht mehr
    aus Kopf. Was stand bloß in diesem schwarzen Buch, das ich
    auf keinen Fall lesen sollte?
    Doch obwohl dieser Gedanke mich am hartnäckigsten
    verfolgte, gab es da auch noch andere Vorfälle, die mich auf
    Abstand gehen ließen. Ich konnte seine Worte von Martini
    nicht vergessen: „Ein Blinder würde sonst sehen, dass et-
    was zwischen uns ist.“ Hatte er das genauso gemeint, wie
    es klang? Und dann seine leichtsinnige Geste, vor allen an-
    deren. Er war dieses immense Risiko eingegangen, nur um
    flüchtig meine Hand zu halten. Ich hatte zu viele wider-
    sprechende Signale und Hinweise, die er mir gab. Als hätte
    ich ein vollständiges Puzzle, alle Teile wären vorhanden und
    doch schienen sie nicht recht zusammenzupassen. Wann
    würde ich endlich das vollständige Bild sehen?
    Den Morgen und fast die ganze Nacht dieser zwei Tage
    verbrachte ich nur damit, aus dem Fenster zu starren, meis-
    tens in den schweren Regen, und meinen unzusammenhän-
    genden Gedanken nachzugehen.
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    Hunderte Male hatte ich mir eingeredet, dass ich dieses No-
    tizbuch in die Finger kriegen müsste, nur um es mir gleich
    danach wieder auszureden. Er würde mir doch nie wieder
    vertrauen. Es kam also nicht infrage und doch, der Gedanke
    war da. Er setzte sich in mir fest wie ein Parasit, um mich
    nachts zu verfolgen bis in die tiefsten Winkel meiner Träume.
    Jede Nacht sah ich dasselbe Bild. Ich betrat sein Schlafzim-
    mer, sah Istvan in das Notizbuch schreiben. Als ich gesehen
    hatte, was ich nicht sehen sollte, schrie er mich im Traum
    an und sperrte mich aus. Ich hämmerte wie verrückt gegen
    die Tür, doch er ließ mich nicht wieder herein. Ich wachte
    schweißgebadet auf, jedes Mal.
    Morgens wurde ich erneut enttäuscht, denn ich hatte
    keine Nachricht von ihm. Was hatte ich bloß verbrochen,
    um sein Schweigen zu verdienen? Er hatte sich doch so ge-
    freut über das Bild seiner Mutter. Istvan war im Innersten
    ergriffen gewesen, das konnte man nicht falsch verstehen.
    Bestrafte er sich und mich etwa dafür, dass er an Martini zu
    weit gegangen war, dass er zu viel von

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