Wolfsfieber
etwa
auch eine schlaflose Nacht hinter sich? Würde ich das hier
bald bitter bereuen? Ich setzte mich jetzt vor den Schreib-
tisch. Die Schublade öffnete ich mithilfe des Schlüssels, der
noch im Schloss steckte. Es war das erste Mal, dass ich mich
selbst hinter den alten Sekretär setzte. Sonst war das immer
Istvans Platz. So hatte ich ihn das letzte Mal gesehen, als er
mir gedankt und seinen grünen Blick geschenkt hatte.
Ich bekam plötzlich ein ganz schlechtes Gefühl. Die Si-
tuation erinnerte mich an die Geschichte von Pandora und
der Büchse. Die alte Sage über das Mädchen, das eine Kiste
anvertraut bekam, die es nie öffnen dürfte. Sie konnte, wie
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ich, ihre Neugierde nicht zügeln und schloss die Kiste auf.
Mit dieser unbedachten Tat brachte Pandora das Übel der
ganzen Welt über die Menschheit und wurde damit zum im-
merwährenden Warnsymbol für Menschen, die ihre Verspre-
chen brachen und aus Selbstsucht eine Katastrophe herauf-
beschworen. War das hier mein persönlicher Vertrauenstest,
den ich drauf und dran war, nicht zu bestehen? Ich wollte
gerade wieder aufstehen, als mir einfiel, wie die Geschichte
um Pandora letzten Endes ausging:
Pandora schloss in ihrer Panik die Büchse sofort wieder
und verhinderte damit, dass der Bodeninhalt der Box austre-
ten konnte. Mit ihrem Zaudern hatte Pandora der Hoffnung
selbst den Weg versperrt, denn sie hatte man zusammen mit
dem Übel aufbewahrt.
Das genügte mir. Ich würde diesen Wahnsinn bis zum Ende
durchziehen und hoffte auf das Beste. Auf die Wahrheit.
Ich öffnete die Lade und sah sofort das schwarze Buch.
Es war nicht das einzige Notizbuch, das sich in dem Schub-
fach befand. Da gab es noch ein paar rote und blaue Hefte.
Doch meine Augen fixierten das schwarze, dicke Notizbuch
in der Mitte, das sich mir ohne Gegenwehr präsentierte.
Kein Schloss, wie es ein Tagebuch gehabt hätte, war ange-
bracht. Lediglich ein schwarzes Band umspannte die Seiten
und hielt das gespreizte Buch mit dem schwarzen Lederein-
band zusammen. Ich atmete deutlich ein und aus, um den
Kopf freizukriegen. Meine Haare fielen mir vor das Gesicht.
Ich strich sie unordentlich hinter die Ohren und nahm das
Buch aus der Lade. Seine Schwere kam mir unnatürlich vor.
Es lag vermutlich an meinem belasteten Gewissen, das ich
jetzt versuchte zu verdrängen. Ich strich das Band vom Le-
der und öffnete es, die ersten Seiten enthüllend. Auf den
blass linierten Zeilen standen Istvans Worte. Ich erkannte
die schmale, sehr schräg gehaltene, Schrift sofort. Es gab
keinen Titel oder irgendeine Einleitung. Auf der ersten Sei-
te stand lediglich „1935“ geschrieben. Danach begann sein
erster Eintrag:
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„Herbst. Ich war gerade fünfzehn, als mein Leben für
immer endete. Ich starb. Alles, was ich war, was mich aus-
machte, schien mir in jenem Spätherbst 1935 genommen zu
werden. Meine Mutter, meine Menschlichkeit, mein Zuhau-
se, meine kindliche Unschuld. Und ich erinnere mich noch
nicht mal daran …“
Ich wollte diesen Satz, völlig gefangen in seinen Ausfüh-
rungen, gerade weiterlesen, da fühlte ich die Anwesenheit
eines anderen Menschen im Raum. Ich musste mich nicht
umdrehen, um zu wissen, wessen Blick sich mir in den Rü-
cken bohrte.
„Ich bin beeindruckt. Du hast ganze zwei Tage durchge-
halten. Ich hatte eigentlich früher mit dir gerechnet“, sagte
Istvans tiefe Stimme, mit einem bittersüßen Unterton, den
ich noch nie gehört hatte.
Ich drehte mich sichtlich eingeschüchtert um. Er stand
da, mitten im Raum, als hätte er mich erwartet und nicht, als
wäre er gerade erst nach Hause gekommen. Er trug weder
eine Jacke, zur Tarnung natürlich, noch irgendwelche Bü-
cher wie sonst, wenn er aus der Bibliothek kam.
Sein Blick war leer, fast finster und doch schien er nicht
böse zu sein, nicht böse genug, wenn man bedachte, wobei
er mich gerade ertappt hatte.
Ich drehte mich blitzschnell wieder um und beförder-
te das Notizbuch mit einem Ruck wieder in sein Versteck
zurück, als könnte das alles ungeschehen machen. Sofort
begann ich, mich zu entschuldigen und um Verzeihung zu
bitten.
„Istvan, es tut mir so leid. Ich weiß gar nicht, was ich
sagen soll. Das ist unverzeihlich. Wenn ich du wäre, würde
ich mich sofort rausschmeißen. Du hättest jedes Recht dazu.
Tut mir leid. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.
Bitte, verzeih mir!“, flehte ich mit schwacher, zittriger Stim-
me.
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