Wolfsfieber
Sogar meine Hände und Lippen bebten.
Er schien mich gar nicht zu hören. Er starrte an mir vor-
bei, auf das Notizbuch und schien angestrengt über etwas
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nachzudenken. Ich konnte mir nicht vorstellen, über was.
Dann nichts. Er schwieg. Ich wünschte mir, er würde mich
schlagen oder mich rausschmeißen. Aber dieses Schweigen,
diese Totenstille waren zermürbend. Ich hielt es nicht aus.
Ich wollte gerade mit gesenktem, verzagten Blick an ihm vor-
bei, da ergriff er forsch mein Handgelenk wie damals, als er
mich bat, ihm zu helfen. Sein Gesicht drängte sich jetzt an
mein Ohr.
„Nein, du bleibst. Du verschwindest jetzt nicht einfach!“,
befahl er in einer festen, bestimmten Art, die mir vollkom-
men fremd an Istvan war.
Ich hatte Angst, nicht wirklich vor ihm, aber vor dem ver-
dienten Zorn in ihm, den ich vielleicht heraufbeschworen
hatte. Mein Herz raste. Er hörte es natürlich.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du doch noch Angst vor
mir haben könntest. Nach allem“, bemerkte er zu meiner Pa-
nikreaktion und sah mich durchdringend an. Seine Augen
schienen nach etwas Bestimmtem in meinen Augen zu su-
chen. Er umklammerte noch immer meine Hand.
„Ich habe keine Angst vor dir. Ich habe Angst vor mir und
dem, was ich vielleicht kaputt gemacht habe“, gestand ich
ihm und suchte nach einem Zeichen von Verständnis in sei-
nem Gesicht. Ich fand nur Anzeichen von Besorgnis.
„Ich bin nicht wütend auf dich und du hast auch nichts
kaputt gemacht. Wie gesagt, ich wusste, dass du früher oder
später kommen würdest. Du gehörst zu den Menschen, die
immer die ganze Wahrheit wissen müssen. Das weiß ich
schon lange. Das hier war unvermeidlich.“
Jetzt ließ er mich los und setzte sich auf die Truhe vor
seinem Bett. Er fuhr mit der Hand durch seine sandfarbenen
Haare, schwer ausatmend und behielt die Hand in seinem
Nacken. Mit geschlossenen Augen hauchte er:
„Ich weiß noch immer nicht, ob ich so weit bin. Ob wir
schon so weit sind. Ob ich es ertragen kann.“
Ich verstand kein Wort von dem, was er mir andeuten
wollte. Ich konnte nur seine Anspannung fühlen, die die
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Sehnen auf seinen Armen hervortreten ließ. Wovon redete
er da?
Er stand auf, ging bestimmt ohne weiteres Zögern zum
Schreibtisch, holte das Buch hervor und gab es mir, bevor er
sich wieder auf die Truhe setzte.
„Ich verstehe nicht“, stotterte ich verdutzt und hielt das
Buch in meinen kraftlosen Händen.
„Du sollst es lesen. Du kannst es lesen. Nimm es mit,
wenn du willst. Es wird leichter sein, es zu lesen, wenn ich
nicht dabei bin. Für uns beide, meine ich“, sagte er und die
Gedanken hinter seinen Worten waren unmöglich zu ergrün-
den. Er kam mir jetzt todmüde vor, als hätte er ewig nicht
mehr richtig geschlafen. Erst jetzt bemerkte ich die dunkeln
Schatten um seine Augen. Der grüne Blick hatte mich derart
abgelenkt, dass ich es nicht gesehen hatte.
Ich setzte mich zu ihm auf die breite Truhe vor dem Bett,
ließ meinen Kopf ein wenig hängen und schwieg. Das Buch
lag in meinem Schoß.
„Ich hab alles kaputt gemacht, oder?“, fragte ich niederge-
schlagen in den Raum und meine Stimme klang derart trau-
rig, dass sie mich beinahe selbst zum Weinen brachte.
„Nein, das hast du nicht. Sag das nicht. Ich weiß, dass
du es nicht aus Zweifel mir gegenüber getan hast. Ich weiß,
dass du nur die ganze Wahrheit über mich wissen willst.
Und wenn du es liest, dann wirst du genau das bekommen.
Die reine Wahrheit, ohne Auslassungen, ungeschönt.“ Seine
Stimme war sanft wie Honig und gab mir wieder Mut. Er
versuchte offensichtlich, mich zu beruhigen. Dafür liebte
ich ihn nur noch mehr. Er verzieh mir mein dummes Ver-
halten nicht nur, er verstand es auch noch besser als ich
selbst.
„Wenn du Bedenken hast, werde ich es nicht tun. Ich
gebe es dir zurück und es wird nie wieder ein Thema sein“,
versprach ich ihm. Jetzt wieder überzeugt und selbstsicher.
„Nein, es ist Zeit. Ich glaube, es war von Anfang an un-
umgänglich, dass du es irgendwann doch erfahren würdest.“
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Er sprach nun wieder in dieser kryptischen, geheimnisvollen
Art, die mich aufwühlte.
„Wovon sprichst du? Was muss ich erfahren?“, fragte ich
nach und sah ihn aufgeregt von der Seite an. Er wich mei-
nem Blick noch immer aus.
„Du wirst es verstehen, wenn du das Buch liest!“, war sei-
ne einzige Antwort.
„Und jetzt? Soll ich jetzt einfach nach Hause gehen und
dich
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