Wolfsfieber
geh mit meiner Laterne“-Lied, das ich schon als Kind
gesungen hatte. Sie marschierten auf der Hauptstraße auf
und ab. Ich machte unzählige Bilder davon, da eines davon
vielleicht auf unsere Titelseite kommen könnte. In der Dun-
kelheit sah man die Kinder kaum, hörte nur den Gesang und
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erkannte eigentlich nur die zappelnden und wackelnden
Laternen. Meine Schwägerin und mein Bruder sprachen
mit ihren Freunden und blieben im Schulhof. Ich hatte die
Handschuhe abgelegt, da sie mich beim Fotografieren stör-
ten und die Dunkelheit neugierige Blicke fernhielt. Ich ging
vor den Kindern her, um sie immer im richtigen Winkel zu
erwischen. So blieb ich immer eine Weile im Dunkeln, bis
ihr Laternenlicht mich wieder erfasste. Als ich wieder einmal
im Finstern darauf wartete, dass sie auf mich zugingen, und
gerade nach der Kamera greifen wollte, bemerkte ich, dass
etwas meine Hand umklammerte und sie umfasste. Istvans
Geruch strömte mir in die Nase. Es würde nur Sekunden
dauern, bis die Laternen nahe genug waren, um ihn an mei-
ner Seite zu beleuchten. Er legte seine Hand in meine, sei-
ne warmen Finger umschlossen meine Finger. Ich erwiderte
den Druck seiner Hand. Ich blicke hoch, um ihn wenigstens
kurz zu sehen. Doch schon, als ich meinen Kopf in seine
Richtung hob, war er verschwunden. Meine Hand war leer
und die Kinder vor mir leuchteten nur mich und die verlas-
sene Straße hinter mir an. Istvan war wieder einmal in die
Nacht verschwunden.
Zwei Tage später erschien die neue Ausgabe des Lokalblat-
tes. Der Artikel über die Schafe stand auf der dritten Seite.
Weiter hinten wäre mir lieber gewesen. Das Martini-Foto mit
den Kindern hatte es auf die Titelseite geschafft. Ich überflog
den Rest der Zeitung und suchte gleich nach den Terminan-
kündigungen. Es war eigentlich nicht viel los. Doch dann fiel
mein Blick auf eine größere Anzeige. Das Rathaus in Wart
eröffnete heute eine Foto-Ausstellung mit Bildern aus allen
Warter Gemeinden der letzten hundert Jahre. „Wart & seine
Gemeinden – 100 Jahre in Bildern.“ Verdammt, wie konnte
ich das vergessen. Noch ehe Istvan wieder nach St. Hodas
gezogen war, hatte ich selbst die Gemeinde überzeugt, die
Fotos, die von Verstorbenen aus St. Hodas hinterlassen wor-
den waren, für die Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Ich
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kannte die Bilder nicht. Ich wusste nicht, wen oder was sie
zeigten, aber es waren auch Bilder aus Istvans Zeit in St. Ho-
das dabei, so viel wusste ich. Die Wahrscheinlichkeit war
nicht sehr hoch, dass ein Foto von ihm dabei sein könnte.
Aber ich wollte das Risiko nicht eingehen. Ich würde nicht
zulassen, dass Istvan durch eine Unachtsamkeit von mir auf-
flog. Die Ausstellung sollte um sechs Uhr abends eröffnet
werden. Es blieb mir also genug Zeit, mithilfe meines Presse-
ausweises eine Vorabsichtung zu bekommen. Ich kannte den
Leiter der Ausstellung. Er hatte mich sogar gebeten, den
Bürgermeister zur Herausgabe der Bilder zu bewegen. Ich
raste also wieder einmal nach Wart und hoffte, dort nicht auf
meinen Chefredakteur Frank zu treffen, der selbst über die
Eröffnung berichten würde.
Ich parkte direkt vor dem Rathaus und hatte Glück, dass
gerade Mittagspause war und ein paar Autos nicht auf ihrem
Platz standen.
Ich ging zum Büro des Bürgermeister-Stellvertreters, das
heute vom Ausstellungsleiter benutzt wurde, wie mir die
Sek retärin am Empfang verkündete.
Ich klopfte an die Tür. Eine freundliche, bekannte Stim-
me bat mich herein.
„Hallo Hans“
„Hallo Joe“, antwortete Hans mit seiner rauen Stimme
auf meinen Gruß. Er war ein vierzigjähriger Künstler und
Kurator, der immer versuchte, jünger auszusehen, als er tat-
sächlich war. Deshalb trug er eine Bluejeans und dazu ein
blaues Sportsakko, das er wohl für lässig hielt.
Hans hatte schulterlanges, nussbraunes Haar und einen
Spitzbart. Er war ein sehr umgänglicher Charakter. Es würde
nicht schwer werden, ihn zu überreden.
„Hans, ich muss dich um etwas bitten. Ich hab dir doch ein
paar Bilder meiner Eltern für die St.-Hodas-Wand gegeben.
Ich müsste sie vor der Ausstellung noch mal durchsehen. Es
könnte sein, dass ich dir versehentlich ein Original gegeben
habe. Das würde meinen Leuten gar nicht gefallen.“
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„Du, Joe, ich muss dir gestehen, dass der St.-Hodas-Teil
leider nicht sehr groß ausgefallen ist. Ich konnte nur zehn
Fotos verwenden, der Platz war zu klein. Es sind
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