Wolfsfieber
keine Bilder
von euch dabei. Aber ich habe die nicht verwendeten Bilder
in einem eigenen Karton, den kannst du gerne durchsehen,
wenn du willst“, bot er mir an und blinzelte mir dabei ein
paar Mal zu. Er fürchtete wohl, ich könnte gekränkt sein, da
unser Beitrag so klein ausgefallen war.
Ich versicherte ihm, dass ich deshalb keinerlei Groll
gegen ihn hege.
Er brachte mir die Kiste mit den Fotos. Mit schwarzem
Filzstift hatte er „Hodas-Beitrag“ daraufgeschrieben.
Ich blätterte durch die fünfzig Fotos und wie durch ein
Wunder fand ich schon nach Kurzem, was ich gehofft hatte,
gar nicht erst zu entdecken.
Ich steckte das Foto in meine Umhängetasche, bedank-
te mich bei Hans und hatte es verdammt eilig, zu Istvan zu
kommen.
Um Punkt drei Uhr kam ich vor seinem Haus an. Es war
genau in dem Moment, in dem die Kirchenglocken zu läuten
begannen. Laut und hell bimmelten sie. Istvan hasste diesen
Lärm. Er konnte dann nichts anderes hören. Das überlaute
Dröhnen der Kirchenglocken überlagerte alle anderen Ge-
räusche. Istvan sagte, in dieser Minute wäre es so, als sei er
vorübergehend blind. Deshalb hörte er mich auch nicht, wie
sonst immer, vorab kommen. Ich stürzte auf den Balkon. Die
Tür war unverschlossen. Ich hechtete ins Wohnzimmer. Dort
war er nicht. Dann ging ich sofort in Richtung Schlafzimmer.
Die Glocken bimmelten schon mit dem letzten Schwung
und wurden leiser. Als ich vor dem Zimmer ankam, sah ich
Istvan vor dem Schreibtisch sitzen. Völlig erschrocken zuckte
er zusammen, als er mich in der Tür stehen sah. Er schrieb
gerade in einem schwarzen Buch, das er just in dem Augen-
blick, als er sich meiner Anwesenheit bewusst wurde, in der
Schreibtischschublade verschwinden ließ. Er setzte sich in
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einer einzigen, fließenden Bewegung auf den Schreibtisch,
die Schublade verdeckend, und machte einen völlig ertapp-
ten Eindruck. Sein ganzes Verhalten war verdächtig. Er lä-
chelte mich nicht an, wie er es sonst tat, sondern legte die
Stirn in Falten. Was stand bloß in diesem Notizbuch, das ich
auf keinen Fall sehen oder gar lesen sollte? Hatte er bemerkt,
dass ich es bemerkt hatte? Ich war mir nicht sicher.
„Was ist los, wieso stürzt du hier so herein? Ist sonst nicht
deine Art“, fragte er dabei atemlos, noch immer mit besorgter
Miene.
Ich tigerte aufgeregt von einer Seite zur anderen und
wollte meine vorbereitete Rede herunterrattern. Doch leider
wurde daraus ein unzusammenhängendes Gestammel, aus-
gelöst von dem unerwarteten, verdächtigen Anblick, der sich
mir ins Gedächtnis brannte.
„Ich habe heute eine Fotografie gestohlen. Das heißt,
eigentlich nicht. Nicht gestohlen. Ich habe heute von der
Foto-Ausstellung gelesen. Sie zeigt die Gemeinden im Wan-
del der Zeit, im Zeitraum von hundert Jahren.“
Jetzt begriff er. Istvan richtete sich auf. Er konnte mei-
ne Aufregung nun verstehen. Ich sprach weiter, noch immer
aus der Puste, meine Worte wild und schnell vor mich hin-
sagend.
„Es gab auch Bilder von St. Hodas aus deiner Zeit. Ich
habe den Kurator überredet, sie durchsehen zu können. Wie,
ist egal. Aber dabei habe ich es entdeckt. Eigentlich hatte
ich gehofft, gar nichts zu finden, aber das hier ist gut … Gut,
dass ich es gefunden habe. Es gab ein Foto, ein Foto von dir
und … deiner Mutter!“, stöhnte ich, erschrocken über mei-
ne eigenen Worte, hervor. Er schien zur Statue zu erstarren.
Damit hatte er nie im Leben gerechnet. Der Schock traf ihn
ganz unvorbereitet.
Er hatte seine Mutter, oder auch nur ein Foto seiner Mut-
ter, seit über 75 Jahren nicht gesehen.
Ich zog das Bild, das ich entwendet hatte, aus der Tasche
und reichte es ihm.
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Er nahm es in die Hand. Ich stand bewegungslos vor ihm,
noch immer schwer atmend. Ich glaube, zuerst erkannte er
sich gar nicht. Es war immerhin ein Foto aus dem Jahre 1934
und zeigte einen vierzehnjährigen Istvan im vergilbten Sepia.
Das Foto war ziemlich zerschlissen, es musste das Original
sein. In der Mitte des Bildes stand der junge Istvan mit einem
Korb voller Mais in der Hand, neben ihm seine Mutter Maria,
die als Erntehelferin einen Erntekorb umgeschnallt hatte und
leicht verschwitzt in die Kamera lächelte, ganz sanft. Der gü-
tige Zug um den Mund, den ich von Istvan kannte, war auch
in ihrem Gesicht zu entdecken. Auch die lange Form seiner
Brauen hatte er von ihr. Die beiden sahen sich in vielen Din-
gen sehr ähnlich. Maria war eine
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