Wolfsfieber
brannte sich mir ins Gedächt-
nis. Ich bat ihn danach öfter, es mir vorzutragen, da es, be-
sonders in Verbindung mit seiner Stimme, eine unglaubliche
Anziehungskraft besaß. Es hatte keinen Titel, ging aber so:
Des Nachts ward sie oft gesehen,
dort bei dem Haine stehen,
doch ward nicht eine Träne
aus ihrem Aug geflossen,
und dennoch schaut ihr Blick
von Traurigkeit so schwer,
da weinte der Himmel
an ihrer statt so sehr,
dass sieben Nächte fort
das Wasser ward gegossen,
dass tote Flüsse gar flossen!
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Es waren sehr traurige Verse, die dennoch eine bittersüße
Anziehungskraft auf mich ausübten.
In dieser Nacht träumte ich sogar von ihr. Von einer trau-
rigen, einsamen Frau, deren Blick sogar die Gezeiten selbst
beeinflussen konnte. Ich sah sie, einsam und verlassen, auf
einem Feld stehen, bevor ich erkannte, dass es eigentlich
ein Wald war. Sie schien mir vollkommen verzweifelt. Ihr
Blick ergriff mich im Innersten. Er brach einem das Herz.
Erst nachdem ich mich, im Traum, von ihr entfernt hatte,
erkannte ich, dass diese verzweifelte Frau ich war. Das er-
schreckte mich so sehr, dass ich verstört aufwachte, mitten
in der Nacht. Ich atmete unregelmäßig und mein Herz raste.
Das weckte auch Istvan. Er war sofort sehr besorgt. Ich ver-
sicherte ihm, dass ich nur einen Albtraum gehabt hätte. Er
nahm mich ganz fest in die Arme und ließ mich nicht mehr
los, weit bis in den nächsten Morgen hinein.
Ich konnte mir nicht erklären, was diesen Albtraum aus-
gelöst hatte. Schließlich war ich so zufrieden und glücklich
wie noch nie zuvor. Es ergab keinen Sinn. Ich ermahnte mich
selbst, nicht weiter daran zu denken.
Zwei Tage später war ich gerade dabei, Essen vom Italiener
abzuholen, das ich zu Istvan mitnehmen wollte, um mich
für das Abendessen zu bedanken, da läutete mein Handy. Es
war Carla. Sie rief an, um sich nach mir zu erkundigen. Ich
versuchte, nicht ganz so überschwänglich zu klingen, wie mir
zumute war. Carla bemerkte dennoch, dass ich mehr als nur
guter Dinge war, und verlangte nach einer Erklärung.
„Es läuft einfach alles gut. Ich bin einfach gut gelaunt.
Wie geht es euch?“
„Danke, uns geht es auch super. Aber du klingst wirk-
lich ganz anders. So hast du noch nie geklungen. Was ist der
Grund?“, bohrte sie weiter.
Ich konnte mit ihr natürlich nicht über die letzten Tage
sprechen, obwohl ich es sehr gerne getan hätte. Wie gerne
hätte ich Carla gesagt, dass ich bis über beide Ohren verliebt
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war, dass ich mich ganz anders fühlte als je zuvor. Doch ich
schwieg, für ihn, für uns.
„Vielleicht liegt es ja am Advent. Du weißt, dass ich diese
Zeit liebe. Den Schnee, das Naschzeug. Einfach alles.“
„Na dann will ich dir das mal glauben, Joe. Aber ich den-
ke immer noch, dass du mir etwas nicht erzählen willst.“
Ich verabschiedete mich von ihr und atmete noch mal
kräftig durch, bevor ich das Handy wieder zuklappte.
Ich schnappte mir die Lasagne und das Tiramisu, die der
Kellner auf die Bar gestellt hatte. Ich bezahlte und gab or-
dentlich Trinkgeld, um endlich zu Istvan zu kommen, der
vermutlich schon auf mich wartete. Es war bereits halb fünf
und die Bibliothek hatte seit vier geschlossen.
Ich platzierte die Plastikbehälter auf dem Beifahrersitz
und fuhr vorsichtig von Rohnitz nach St. Hodas. Eigentlich
kam ich nie um diese Uhrzeit vorbei, da es normalerweise
noch zu hell war. Doch jetzt, mitten im Winter, war es schon
um fünf dunkel genug, um nicht gesehen zu werden.
Die Hintertür war bereits offen, eigentlich nur angelehnt.
Ich dachte, er hätte sie meinetwegen offen gelassen und
ging hinein. Ich stellte das Essen in der Küche ab und hörte
leise Stimmen im Wohnzimmer. Zuerst dachte ich, es käme
vielleicht vom Fernseher, der eigentlich nur dann lief, wenn
Istvan sich einen Film ansah. Doch schnell machte ich sei-
ne Stimme aus, die mit einer anderen, eindeutig weiblichen,
Stimme sprach. Ich zog meine Jacke aus, legte sie über einen
Stuhl und ging ins Wohnzimmer.
Istvan saß im Ledersessel und drehte sich um, als er mich
kommen hörte. Seine geheimnisvolle Besucherin, die vor
ihm stand, tat es ihm gleich.
Vor mir erblickte ich eine der schönsten Frauen, die ich je
gesehen hatte. Eine groß gewachsene, schlanke Frau in unse-
rem Alter mit dunkler, gebräunter Haut. Sie hatte hüftlanges,
glattes Haar, das kohlenschwarz glänzte. Die Schönheit ihres
Gesichtes war noch
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