Wolfsfieber
Skizzenbücher und Hefte, in denen
er seine Gedichtentwürfe und Gedankenfetzen notierte.
Es gab sehr viele davon. Die rötlichen Hefte waren für die
Zeichnungen gedacht. Es gab Kohlezeichnungen und Blei-
stiftskizzen von den Menschen und Orten, die er auf sei-
nen Reisen gesehen hatte. Bilder von Indianern, rus sischen
Landstreichern und schönen Frauen, nach denen ich ihn
aber nicht ausfragte, weil ich seine Antwort nicht hören
wollte. Was die poetischen, blauen Notizbücher betraf, hatte
ich deutlich mehr Skrupel. Immerhin las ich schon ständig
in seinem Tagebuch, da wollte ich nicht auch noch in sei-
ne literarische Gedankenwelt eindringen. Istvan sagte mir,
dass er sein Tagebuch deshalb so gut versteckt halte, weil es
eigentlich gegen die Regeln verstoße, würde es Regeln ge-
ben. Die verschiedenen Wolfsgruppen waren sich nämlich
alle einig darin, ihre Existenz vor allen geheim zu halten, und
das machte ein Buch, das alle Geheimnisse verriet, zu einem
enormen Risiko.
„Wieso führst du es dennoch, wenn es dich in Gefahr
bringt?“, wollte ich wissen.
„Ich habe es mit einer bestimmten Absicht geschrieben.
Anfangs, um nicht verrückt zu werden. Um jemanden oder et-
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was zu haben, dem ich mich anvertrauen konnte. Später ging
es mehr darum, anderen, die wie ich zu diesem Leben ge-
zwungen wurden, die gebissen wurden, einen Leitfaden mit-
zugeben. Ihnen damit zu helfen.“ Ich fand seine Absicht sehr
nobel und bestärkte ihn darin, das Buch weiterzuführen.
An einem anderen Abend kochte er für mich. Eigentlich
hätte ich es gern für ihn getan, aber der Plan war ja schließ-
lich, etwas Essbares auf den Tisch zu bekommen, also muss-
te das Istvan übernehmen. Alles, was ich fabrizierte, endete
als verbrannter Klumpen.
Istvan dagegen servierte herrlich duftendes Risotto mit
Steinpilzen und Hühnchen, bei Kerzenlicht. Dazu reichte er
mir einen herrlich fruchtigen Riesling, während er bei sei-
nem üblichen Wasser blieb. Das Ganze schmeckte noch bes-
ser, als es aussah. Es gab anscheinend nicht viel, was Istvan
nicht konnte. In einer Sache waren wir allerdings beide ge-
scheitert. Wir konnten kein einziges Instrument spielen, hat-
ten es aber beide versucht. In meinem Fall war es besonders
peinlich, da ich als Musikjournalistin über etwas schrieb und
etwas kritisierte, was mir selbst nicht gelang.
Als Nachtisch präsentierte er mein Lieblingsdessert.
Schokoladeneclairs. Sie waren einfach köstlich. Istvan hat-
te einen sehr ordentlichen Appetit und aß von allem zwei
Portionen. Das wunderte mich etwas, da er sehr gut in Form
war, eher drahtig und schlank. Er erklärte mir, dass es mit
dem erhöhten Kalorienverbrauch vor einer anstehenden
Vollmondnacht zu tun hat.
Nach dem Essen zogen wir uns zurück in sein Schlaf-
zimmer und hörten ein paar Platten, die er schon vorher aus-
gesucht hatte. Vorwiegend handelte es sich um Jazz-Platten.
Ich trug, wenig passend, ein Band-T-Shirt von „The Sub-
ways“, nach dem er mich fragte. Ich erzählte ihm, dass es
sich dabei um eine meiner liebsten Rockbands aus England
handele, und merkte an, dass sie ihm wohl weniger gefallen
würden. „Allein der Bass, den sie benutzen, würde dich zum
Durchdrehen bringen“, neckte ich ihn.
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„Aber da fällt mir ein, einer ihrer besten Songs ist ‚Straw-
berry Blonde‘. Ein witziger Zufall“, scherzte ich und küsste
ihn leicht im Vorbeigehen.
Später an diesem Abend konnten wir beide nicht ein-
schlafen und er schlug vor, etwas vorzulesen. Er ließ mir die
Wahl zwischen den Gedichten von John Donne und Walt
Wittman, den wir beide sehr mochten. Ich bat ihn, mir doch
lieber aus seinen eigenen Dichtungen vorzulesen. Er weiger-
te sich anfangs, aber ich hatte gewisse Mittel, ihn doch noch
zu überzeugen. Mit kleinen Küssen auf seinen Hals und
seine Wangen gelang es mir, Istvan zu überreden. Er nahm
sich das erste blaue Heft aus der Schublade und blätterte es
durch. Danach legte er sich wieder zu mir aufs Bett.
Zuerst hörte ich seinen Dichtungen über Eindrücke, die
er beschrieb, nur zu, um seine schöne, leicht raue Stimme
zu hören. Ich lehnte dabei gegen die Wand des Bettes und er
saß vor mir. Nach einer Weile rückte er an meine Seite und
ich lehnte mich, wie es unsere Gewohnheit war, an seine
Brust, als würde ich magnetisch davon angezogen werden.
Eines der letzten Gedichte, die er vor dem Einschlafen
vorlas, gefiel mir besonders. Es
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