Wolfsfieber
umfassend. Sein Arm
hatte die ganze Nacht lang meine Schulter derart gewärmt,
dass ich noch nicht einmal eine Decke gebraucht hatte. Keiner
weckte den anderen. Wir erwachten gemeinsam. Er brachte
mir einen Kaffee, wieder etwas, das er extra meinetwegen im
Haus hatte, und nach dem Frühstück machte Istvan sich auf
zur Bibliothek. Ich konnte ihn dahin nicht begleiten, das wäre
zu verdächtig gewesen. Es machte mir nichts aus.
Ich ging nach Hause, um zu baden und mich umzuzie-
hen. Nach ein paar Außenterminen kam ich abends nach
Hause und machte mich auf, wieder die Nacht mit Istvan
zu verbringen, wie auch in den folgenden Nächten, außer
wenn ich zu Hause blieb, um zu arbeiten oder zu schreiben.
Ich hegte nämlich den dringenden Verdacht, in Istvans Nähe
nicht genug Konzentration aufzubringen zu können. Ich war
mir dessen ziemlich sicher.
Schon nach einer Woche war ich in Istvans Leben und in sei-
nen Gewohnheiten fest verankert. Wir trafen uns immer bei
ihm, manchmal kam ich auch in die Bücherei. Keinen der
gemeinsamen Abende verbrachten wir in meinem Haus. Er
meinte, dass er mir damit Raum für mich selbst geben wolle.
Obwohl es leichter gewesen wäre, uns bei mir zu treffen, da
mein Haus abgelegener war als das Pfarrhaus. Ich hatte eher
das Gefühl, dass er sich nicht erlaubte, in meine Intimsphä-
re einzudringen. Ich hatte dabei weniger Scheu. Verbrachte
ich einen Abend oder eine ganze Nacht bei ihm, stöberte ich
in all seinen Sachen und er ermutigte mich dazu. Nach unse-
rem Kuss hatte er den Widerstand mir gegenüber endgültig
zu den Akten gelegt, wofür ich dankbar war.
Einmal entdeckte ich bei meinen Erkundungen eine klei-
ne Holzkiste mit einem Vorhängeschloss, nach der ich Istvan
fragte.
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„Mach sie ruhig auf!“, empfahl er mir.
Das tat ich und enthüllte dabei eine Kiste voll mit Do-
kumenten und Ausweisen aus verschiedenen Ländern und
verschiedenen Zeiten. Ich nahm die Reisepässe heraus und
blätterte sie durch. Die roten, blauen, grünen und schwarzen
Pässe zeigten immer ein Bild von Istvan, manchmal in Far-
be, manchmal in Schwarz-Weiß. Sein Vorname blieb immer
derselbe, wobei er entweder die Originalschreibweise István
benutzte oder die eingedeutschte Variante, die er auch jetzt
gebrauchte. Die Familiennamen änderten sich ständig. So
war er in den USA Ungar, Deutscher oder sogar Engländer.
Meistens verwendete er einen ungarischen oder deutschen
Nachnamen so wie jetzt: Jany.
Nachdem ich mir alle Pässe und die Reiseeinträge an-
gesehen hatte, fiel mir noch etwas auf. Auf beinahe jedem
zweiten Foto trug Istvan eine Brille. Eine Hornbrille in den
70ern und ein zartes, randloses Modell in den 90ern. Seine
Frisur blieb immer dieselbe, kürzer an den Seiten, ein klas-
sischer Schnitt.
„Was soll das Ding mit der Brille?“, fragte ich ihn irri-
tiert.
„Ach das. Das ist so eine Art Clark-Kent-Taktik. Funktio-
niert ganz gut“, bemerkte er scherzend. Ich lachte und legte
die Sachen zurück in die Kiste.
„Woher bekommst du eigentlich die gefälschten Doku-
mente?“, fragte ich.
„Früher habe ich sie selbst gemacht. Mittlerweile sind sie
zu ausgeklügelt. Dafür zahlte sich mein Kunststudium echt
aus. Für die Fälscherei meine ich“, scherzte er weiter.
„Haha! Hast du deshalb Kunst studiert?“, wollte ich wei-
ter wissen.
„Eigentlich schon. Aber nach einer Weile fand ich wirk-
lich Gefallen daran. Als ich zum ersten Mal, in den USA,
einen gefälschten Ausweis brauchte, ging ich dorthin, wo je-
der andere auch hingeht, wenn er illegale Bedürfnisse nach
Diensten dieser Art verspürt: in den Untergrund. Doch ich
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hasste diese Welt der Schwarzmarkthändler und Fälscher.
Ich wollte damit nichts zu tun haben. Ich hatte schon genug
am Hals mit meinem Wolfsproblem. Deshalb lernte ich, die
Techniken meiner Kunstausbildung zum Fälschen einzuset-
zen. Ein Kompromiss, mit dem ich leben kann.“
Istvan sprach jetzt ganz offen mit mir über derlei Dinge,
auch wenn es ihm noch immer ein Dorn im Auge war, auf
solche Lügen und Tricks angewiesen zu sein.
Ich versicherte ihm jedes Mal, wenn er mir diese Dinge
gestand, dass ich ihn verstehen würde, dass ich an seiner
Stelle genauso gehandelt hätte.
Ich fand aber auch anderer Dinge in seinen persön lichen
Sachen, erfreulichere Fundobjekte. Die blauen und roten
Notizbücher, die er zusammen mit seinem schwarzen Buch
aufbewahrte. Es waren
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