Wolfsflüstern (German Edition)
kamst, Isaac?« Er schüttelte den Kopf. »Wie könnte ein Wolf hinein- oder herausgelangen?« Sie wackelte mit ihrer freien Hand. »Sie haben keine Daumen.«
»Was, wenn die blonde Taubnuss ihn reingelassen hat?«, schlug Derek vor. »Was, wenn er noch immer im Haus ist?«
»Wäre ein Wolf hier drinnen gewesen«, sagte Isaac, »hätte es weiteres Blutvergießen gegeben. Wenn die …«, er zog eine Braue hoch, »… blonde Taubnuss die Tür geöffnet hätte, wären sie alle eingefallen, und nicht nur einer.«
»Keiner von ihnen kam hier herein.« Fanny, die stumm am Küchentisch gesessen hatte, stand auf und stellte sich vors Fenster. Sie nahm einen schmalen Zweig getrockneter, lilafarbener Blumen vom Sims. »Wolfs-Eisenhut«, erklärte sie schlicht und legte die Pflanze zurück an ihren Platz.
Gina warf einen Blick in die Runde, doch niemand, nicht einmal Isaac, schien zu wissen, wovon Fanny sprach.
»Was bewirkt der?«, erkundigte sie sich.
»Er hält sie fern.« Fanny setzte sich wieder an den Tisch. »Ich habe vor jedes Fenster und jede Tür einen solchen Zweig gelegt. Ihr dachtet doch nicht, dass sie die ganze Nacht dort draußen saßen, weil sie Angst vor dem Gewehr hatten, oder?«
Isaacs verdrießlicher Miene nach hatte er das sehr wohl gedacht. »Woher hast du dieses Wissen?«
»Von Mutter.«
»Wann hat sie …?«
»Neunzehnhundertfünfundsechzig.« Isaacs Miene wurde noch grimmiger, aber Fanny ging mit einem Achselzucken darüber hinweg. »Vorsicht ist besser als Nachsicht.«
»Aber wozu?«, wollte ihr Vater wissen. »Der Tangwaci Cin-au’-ao war eingesperrt. Es stand nicht zu erwarten, dass er je freikommen würde.«
»Man erwartet nie, dass sie freikommen«, konterte Fanny. »Seit ich alt genug war, um Worte zu verstehen, hast du die Legende vom Tangwaci Cin-au’-ao an jedem Lagerfeuer zum Besten gegeben. Sie hat mir Angst gemacht. Erst als ich überall Wolfs-Eisenhut ausgelegt hatte, konnte ich nachts wieder schlafen.«
»Also ist Amberleigh verrückt«, meinte Derek. »Sie sieht und hört Dinge, die nicht da sind.«
»Nicht zwangsläufig«, widersprach Isaac. »Der Tangwaci Cin-au’-ao ruft Menschen zu sich, seit er in die Höhle gesperrt wurde. Vielleicht hat er Amberleigh gerufen.«
»Wahrscheinlich sogar«, stimmte Gina ihm schulterzuckend zu. »Mich hat er jedenfalls gerufen.«
Isaacs Augen wurden schmal. »Wann?«
»Seit ich das erste Mal in das Erdloch gestürzt war.«
»Und das hast du nie zuvor erwähnt?«
»Hättest du mir vor heute geglaubt?«
»Ja.«
»Das konnte ich nicht ahnen. Ich dachte, ich würde mir nur einbilden, dass das Heulen der Nicht-Wölfe wie mein Name klang.«
Oder dass ich verrückt wäre .
»Ich habe mich immer schon gefragt, wieso du darauf bestanden hast, dorthin zu gehen, obwohl ich es verboten hatte. Aber ich vermute, wenn er dich gerufen hat …«
Gina schüttelte den Kopf. »Ich habe den Ruf vor unserer Bergung nie gehört.« Isaac runzelte die Stirn. »Oder vielleicht vernahm ich ihn zum ersten Mal dort unten.«
Was erklärte, warum sie die Stimme immer für einen Teil ihrer Neurose gehalten hatte. Nach allem, was in dem Krater geschehen war, wie hätte sie keine psychischen Probleme bekommen sollen? Ergab es nicht mehr Sinn, dass das, was ihr der Wind zugeflüstert hatte, ein aus ihren eigenen Schuldgefühlen resultierendes Echo der letzten Worte ihrer Eltern darstellte und nicht der Ruf eines unsichtbaren aztekischen Werwolf-Zauberers war, von dem sie bis dato nie gehört hatte?
Teo drückte ihre Hand, und als Gina ihn ansah, lächelte er. »Wir werden dieses Rätsel vielleicht nie ganz lösen können, aber nachdem die Sonne jetzt aufgegangen ist und die Werwölfe verschwunden sind, sollten wir vermutlich besser alle in die Stadt fahren.«
»Ich kann es nicht erwarten, ins Flugzeug zu steigen«, sagte Tim.
»Endlich sind wir mal einer Meinung!«, rief Derek und klatschte mit seinem Vater ab.
»Dann zieht euch jetzt alle an und packt zusammen«, schlug Gina vor. Je schneller sie die Gäste von hier wegschaffte, desto besser. »Ich werde Jase …« Sie guckte sich nach allen Seiten um. »Wo steckt er?«
Niemand antwortete. Ein nervöses Kribbeln überlief ihren Rücken, während ihr Blick auf der Tür verharrte.
Jase hätte nichts Dummes getan.
Oder doch?
Matt erkannte an Ginas Miene, dass sie befürchtete, McCord könnte aus dem Haus und direkt in den todbringenden Schlund eines Wolfs spaziert sein.
Er trat ans Fenster. Da keine
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