Wolfsflüstern (German Edition)
nahe zu sein, gab ihr Kraft. Sich mit ihm eins zu fühlen, gab ihr Mut. Sie musste daran glauben, dass sie beide das hier überleben würden, denn die Alternative war zu entsetzlich, um sie sich auch nur vorzustellen.
Ein Leben ohne Teo Mecate war nicht lebenswert.
Gina warf einen Blick zum Fenster. Sie war schon dabei, sich abzuwenden und wieder ins Bett zu krabbeln, wo Teos Duft auf dem Kissen die Erinnerung an seine Berührung und die Intimität, die sie geteilt hatten, zurückbringen würde, als ihr bewusst wurde, was sie gerade gesehen hatte.
Es war nicht ein einziger Wolf im Hof.
Ihre nackte Haut prickelte, als eine Gänsehaut ihren Körper vom Kopf bis zu den Zehen erfasste. Sie schnappte sich irgendwelche Klamotten vom Boden, zog sie hastig an, dann hopste sie, im Laufen in ihre Stiefel schlüpfend, zur Tür, bevor sie die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer stürmte.
»Das kann nichts Gutes bedeuten«, flüsterte sie, als ihre Augen den leeren Raum überflogen.
Isaacs Gewehr lehnte an dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte. Gina überprüfte die Waffe. Es war noch ausreichend Munition darin, darum nahm sie sie mit, bevor sie das Haus absuchte.
Die Vordertür war zugesperrt, die Hintertür ebenso. Nicht, dass eine verschlossene Tür irgendeinen Unterschied gemacht hätte. Aber wenigstens lagen keine Leichen herum. Kein Knurren grollte aus dunklen Ecken. Kein tollwütiger Wolf mit Teos Augen stürzte hinter dem Sofa hervor.
Aber die Nacht war noch jung.
Gina musterte den östlichen Horizont. Nein, sie war schon alt . Obwohl der Himmel noch marineblau leuchtete, verkündete die Uhr, dass die Sonne bald aufgehen würde. Hatte der Nahual sie wirklich die ganze Nacht in Frieden gelassen? Das konnte sie sich nicht vorstellen.
Sie wollte gerade jedes Zimmer im Haus checken – die Männer mussten irgendwo in der Nähe sein –, als draußen ein langes gutturales Heulen zum Himmel hinaufstieg.
Giii-naaa!
An der äußeren Peripherie des Hofes, dort, wo gezähmte Natur in ungezähmte überging, kauerte ein einsamer schwarzer Wolf. Der sinkende Mond spiegelte sich in seinen Augen und machte es Gina unmöglich, festzustellen, ob es sich bei dem Tier um jemanden handelte, den sie kannte, den sie liebte. Sie krampfte die Finger um die Waffe. Was, wenn es Teo wäre? Könnte sie ihn töten? Sie wusste es nicht.
Komm zu mir .
Ginas Augen weiteten sich. Der Wolf hatte sich nicht bewegt, hatte nicht einmal das Maul geöffnet. Aber wie hatte sie dann diese Worte hören können?
Vielleicht träumte sie doch. In all den Jahren, seit der Wind ihren Namen flüsterte, hatte sie nie anderes als ihn gehört.
Komm jetzt zu mir, dann verschone ich den Rest .
Gina schaute über ihre Schulter, aber hinter ihr stand niemand. Wünschte sie sich, es wäre anders? Nein. Denn sollte jemand auftauchen, würde er ihr auszureden versuchen, es zu tun. Doch das musste sie. Wenn es eine Chance gab, die anderen zu retten, würde sie sie ergreifen. Aber konnte sie dieser Kreatur trauen?
Nein .
Spielte es eine Rolle?
Gina seufzte. Nein .
Letzte Chance .
Der Wolf erhob sich, dann verschwand er im Unterholz. Das Gestrüpp erzitterte, als sein Körper sich unerbittlich hindurchpflügte.
Sie konnte nicht; sie sollte nicht.
Gina ging zur Vordertür und tat es.
Sie nahm das Gewehr mit. Die Stimme hatte es ihr nicht verboten.
Was bedeuten musste, dass die Waffe der Kreatur nichts anhaben konnte. Aber davon waren sie ohnehin ausgegangen.
Kugeln konnten keinen Rauch niederstrecken.
Allerdings war der Wolf vor ihr nicht aus Rauch. So, wie sein Körper sich durch Gebüsch und Gräser schob, war er nicht weniger solide als ihr eigener.
Also war dieser Wolf womöglich nur der Fremdenführer-Wolf. Und der Nahual war …
Gina blickte zum heller werdenden blauen Himmel und zu den an Rauch erinnernden Wolken. War er dort oben und folgte ihnen? Sie hörte keine wispernde Stimme mehr. Aber immerhin tat sie, was er verlangte. Es gab keinen Anlass, noch mehr zu sagen.
Sie durchquerten eine unwegsame Region der Ranch. Mehrere große Felsen, die von niedrigen Kakteen umringt waren, machten es Pferden wie Menschen schwer, sich dort hindurchzukämpfen. Gina war müde, überhitzt und verängstigt. Als ihr Stiefel auf einem Stein abrutschte und sie um ein Haar gestürzt wäre, fauchte sie: »Warum ich?«
Die Frage war rhetorisch gewesen. Eine selbstmitleidige Bemerkung, wie der Mensch sie bisweilen äußert. Doch der Wolf wirbelte herum, hob die
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