Wolfsherz
einen Dolch durch den Panzer eines Gegners.
Allein dieser Gedanke erschreckte ihn - er dachte ihn wortwörtlich -, denn er hatte nie in solchen Bildern gedacht. Als Feigling aus Überzeugung hatte er Gewalt niemals an sich herangelassen; nicht einmal in seine ureigenste Welt tief in seinem Inneren, in die niemand außer ihm hineinsehen konnte.
Aber vielleicht gab es Stefan, den Feigling, nicht mehr. Er war durch die Drehtür gegangen und als etwas anderes, Unbekanntes wieder herausgekommen. Er wußte noch nicht genau, als was, und vielleicht hatte das den simplen Grund, daß er bis jetzt nicht den Mut aufgebracht hatte, allzu genau hinzusehen. Vielleicht, weil er tief in sich spürte, daß ihn das, was er dann erblicken würde, zu Tode erschrecken mochte. Er hatte niemals wirklich verstanden, was es hieß, Angst vor sich selbst
zu
haben. Nun begriff er es.
»Was soll das?!« fragte er scharf. »Wollen Sie mir drohen? «
White verzog geringschätzig die Lippen. »Aber ich dachte, das hätten wir hinter uns, Stefan. «
Strenggenommen hatten sie das. Sie waren wieder am gleichen Punkt wie in jener Nacht vor zwei Wochen in der weißen Hölle des Wolfsherzes, aber etwas war anders, und er begriff diese Veränderung erst jetzt, genau in dem Moment, in dem er Whites Worte hörte: White hatte keine Macht mehr über ihn. Stefan konnte nicht einmal sagen, warum das so war. Mehr als alles andere überraschte und verwirrte ihn das, was mit ihm geschah, aber es war so: Er fürchtete ihn nicht mehr. White konnte - und würde - ihm schaden, wenn er ihn dazu zwang; ja, er konnte ihn vernichten, daran zweifelte er jetzt ebensowenig wie damals. Aber er konnte ihm nicht mehr angst machen.
»Das haben wir«, antwortete er. »Und deshalb frage ich Sie noch einmal: Was soll das? Warum sind Sie hier? Sind Sie nur gekommen, um Rebecca und mich einzuschüchtern? Das ist nicht nötig. «
»Weil Sie es schon sind? « White lächelte. Er maß Stefan mit einem Blick, den er im allerersten Moment für abschätzend hielt, bevor ihm klarwurde, daß es etwas ganz anderes war. Auch White mußte auffallen, daß er nicht mehr dem gleichen Mann gegenüberstand wie noch vor zwei Wochen, aber seltsamerweise hatte Stefan das Gefühl, daß ihn diese Veränderung weder überraschte noch daß er sie bedauerte oder sie ihn gar erschreckte. Ganz im Gegenteil wirkte er auf eine sonderbare Weise zufrieden. Als hätte er auf etwas gewartet, das nun eingetroffen war.
War es vielleicht so, überlegte Stefan. Hatte er ihn nur manipuliert, um genau das zu erreichen, was nun geschah? Aber warum?
Lächelnd schüttelte White den Kopf, hob seinerseits die Hand an die Schalttafel und ließ den Aufzug weiterfahren. »Diesmal tun Sie mir wirklich unrecht, Stefan. Aber das kann ich Ihnen nicht verübeln. Ich an Ihrer Stelle würde wohl genauso reagieren. Trotzdem, ich bin wirklich nur gekommen, um mich nach Ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Und außerdem wollte ich nach dem Kind sehen. «
»Eva!« Whites Frage trug ihm in der unsichtbaren Statistik, die Stefan führte, einige weitere Minuspunkte ein. Allmählich begann sein Saldo tiefrot zu glühen. Auch wenn die Frage für sich genommen ganz harmlos war, sorgten sich für seinen Geschmack in den letzten Tagen ein paar Leute zu viel um Eva.
»Sie haben ihr bereits einen Namen gegeben. «
Der Aufzug hielt wieder an. Die Türen glitten auf, und White trat einen halben Schritt zurück, um Stefan Platz zu machen. Als Stefan nicht auf die Aufforderung reagierte, deutete er ein Achselzucken an und verließ als erster die Kabine. Stefan registrierte beiläufig, daß
White
den Knopf für die dritte Etage gedrückt hatte, nicht er. Er wußte also zumindest, auf welcher Station Rebecca lag; und wahrscheinlich auch in welchem Zimmer.
»Halten Sie das für klug?«
»Was?«
»Dem Kind bereits einen Namen zu geben«, erklärte White, als Stefan hinter ihm auf den Korridor hinaustrat. Erneut und ohne daß es eines Hinweises von Stefan bedurfte, wandte er sich in die richtige Richtung und ging los. »Ich sage Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen erkläre, daß man sich schwerer von Dingen trennt, die einen Namen haben. «
»Dinge?« Stefan versuchte so abfällig wie möglich zu klingen, aber er spürte selbst, daß es ihm nicht gelang. »Wir reden über einen Menschen, White.«
Der Amerikaner zuckte mit den Schultern. »Der Unterschied ist nicht so groß, wie Sie glauben. Es geht nicht nur um Besitz. Aber vielleicht haben Sie
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