Wolfsinstinkt
Wolf ...
„Gibt es viele Wölfe hier in Alaska?“, fragte er leise und ein wenig geistesabwesend.
„Überall, wo es noch weite Flächen unberührter Natur gibt, sammeln sich die Wandler“, antwortete Tala.
Na, vielleicht war das der Grund, warum es ihn wie magnetisch nach Alaska gezogen hatte. Es stimmte, die Einsamkeit und die weiten unbebauten Flächen, die ausgedehnten Wälder und schroffen Gebirgsketten hatten ihn so sehr gereizt, bis er zum Schluss an nichts anderes mehr hatte denken können.
„Woran merkst du, dass ich ein Wolf sein könnte?“, fragte er weiter.
Tala gluckste und fuhr ihm mit gespreizten Fingern durch die Haare.
„Du hast die Ausstrahlung eines jungen Wolfes. Als du am ersten Tag auf mich zugekommen bist, hatte ich das Gefühl, einem Artgenossen gegenüberzustehen.“
Ricky schüttelte den Kopf, nicht, um Talas Aussage zu negieren, sondern einfach, weil das alles weit über seinen Verstand ging.
Tala schien seine Zweifel zu spüren. „Erinnerst du dich, als du zum ersten Mal ins Dorf gegangen bist? Als ich verletzt vor deinem Kamin lag?“
Oh ja, Ricky erinnerte sich sehr gut an diesen Tag, an dem er mehr als einmal gefürchtet hatte, im Schneegestöber den Weg zu verlieren.
„Du hast den Weg beim ersten Mal gefunden, obwohl es geschneit hat, dass man stellenweise keine Hand vor Augen sehen konnte, nicht wahr?“
Ricky nickte langsam, was Tala matt lächeln ließ.
„Das ist der Instinkt eines Wolfes“, sagte er sanft. „Ricky, es wird kommen, wie es kommen muss. Es kann sein, dass du dich nie verwandelst. Dann werde ich dich den Rest deines Lebens beschützen. Aber wenn du dich verwandelst ...“ Er ließ den Rest offen. Ricky konnte sich denken, was er wohl sagen wollte.
Wenn er sich verwandelte, wären sie tatsächlich so was wie ein Rudel.
„Und dieser Wolf von eben? Nashoba ? Wusste er, dass ich ein Wolf bin?“, fragte Ricky schließlich.
Tala zuckte mit den Schultern. „Ich gehe mal davon aus, ja.“ Seine Miene wurde finster und er zog Ricky dichter an sich. „Er lebt hauptsächlich als Wolf, verwandelt sich selten zurück. Seine Wolfstriebe dürften besser sein als meine. Also gehe ich davon aus, dass er es gerochen hat.“
„Er sagte, dass ich nach dir rieche.“
Tala sah direkt in Rickys Gesicht. Seine Gedanken schienen zu rasen.
„Natürlich riechst du nach mir. Für jeden anderen Wolf ist das eine Warnung. Kein anderes Tier in diesem Wald wird dir zu nahe kommen, solange du nach mir riechst. Die Kaninchen so wenig wie die Bären. Für Nashoba allerdings war mein Geruch ein Grund, dich anzugreifen.“
„Warum?“ Ricky runzelte die Stirn. Warum hasste Nashoba Tala so sehr, dass er sogar ihn angriff?
Tala fuhr ihm übers Gesicht und küsste ihn auf die Stirn. „Das ist eine lange Geschichte, Ricky. Z u lang, um sie jetzt zu erzählen. Ich hätte dich aber ausdrücklicher auf die Gefahr hinweisen müssen. Woher hättest du das wissen sollen?“
Ricky lächelte sanft. Er war Tala nicht mehr böse dafür, dass er ihn angeschrien hatte. Oft genug hatte seine Mutter ihn damals angebrüllt – nicht aus Wut, sondern aus Sorge. Ähnlich war es wohl nun bei Tala gewesen.
„Wann ... Wann hast du dich das erste Mal verwandelt?“, fragte Ricky schließlich.
Tala schien sich nicht mehr ganz so unwohl dabei zu fühlen, offener von sich zu erzählen. Er setzte sich auf und drehte sich so, dass er sich mit dem Rücken an Rickys Brust kuscheln konnte. Ricky schlang die Beine und die Arme von hinten um ihn und streichelte ihm vorsichtig über die Stellen der Brust, die nicht verletzt waren.
„Mein Mentor hat es damals bei mir mit Meditation probiert. Es hat nicht geholfen. Als ich eines Tages mit dem Stamm auf der Jagd war, wurden wir von einer Herde Rentiere beinahe überrannt. In diesem Moment, als das Leben meiner Freunde, meines Volkes, auf dem Spiel stand, kam der Wolf das erste Mal durch. Ich habe mich nicht verwandelt, aber die Rentiere sind vor uns davon gelaufen, statt auf uns zu. Nur weil ich sie angesehen habe. An diesem Abend habe ich mich das erste Mal verwandelt.“
Ricky lauschte der Geschichte gespannt und fuhr dabei sanft durch das weiche Haar seines Partners.
„Und dann wurdest du zum Wächter?“
Tala schüttelte den Kopf. „Nein. Das hat länger gedauert – die Geschichte erzähle ich dir ein anderes Mal.“
Tala wandte den Kopf und musterte Ricky. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“
„Na sicher. Was denn?“
„Geh
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