Wolfskinder - Lindqvist, J: Wolfskinder - Lilla stjärna: Wolfskinder
den Gefrierfächern Stimmen laut wurden und kurze Zeit später der Filialleiter mit einem etwa dreizehnjährigen Mädchen im Schlepptau auf die Tür zum Lager zuging.
Den wenigen einsilbigen Repliken konnte Jerry entnehmen, dass das Mädchen geklaut hatte und ihr jetzt die Hammelbeine lang gezogen werden sollten. Mit einer Hand umklammerte der Filialleiter den Unterarm des Mädchens, und sie schluchzte: »Nein, nein, Entschuldigung, ich werde nie wieder …« Wie alle unerwarteten Ereignisse, denen ein gewisses Maß an Gewalt innewohnte, erzeugte auch dieses eine Stummheit im Körper,und Jerry schaute mit hängenden Armen zu, wie der Filialleiter die Schwingtür zum Lager aufstieß und das Mädchen mit sich hineinzog.
Er hielt den Filialleiter für einen netten Kerl und glaubte, dass er eher ein kleines Exempel statuieren als das Mädchen wirklich der Polizei übergeben wollte. Das war seine Deutung. Theres deutete es anders.
Als Jerry aus seiner vorübergehenden Lähmung erwachte, fiel sein Blick auf Theres. Sie war zu dem Regal mit Haushaltswaren hinübergegangen, hatte sich ein Tranchiermesser genommen und es aus seiner Verpackung gerissen. Jetzt ging sie mit entschlossenen Schritten und dem Messer auf Bauchhöhe auf das Lager zu.
»Schwesterchen? Schwesterchen!«
Er lief ihr hinterher und packte sie an der Schulter. Theres hob das Messer und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren leer und das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. Instinktiv ließ Jerry ihre Schulter los und hob abwehrend die Hände. Theres schien schon zustechen zu wollen, hielt dann aber ihren Arm zurück. Ein leises Knurren drang aus ihrer Kehle.
Unglaublich, das Jerry noch die Geistesgegenwart besaß, die Frage zu erkennen, die sich hinter ihrer Miene, hinter ihrer Haltung verbarg: Warum hältst du mich auf? Ich gebe dir eine Sekunde, um dich zu erklären.
»Du irrst dich«, sagte Jerry. Es war das Erstbeste, was ihm einfiel, um sich selbst ein bisschen Luft zu verschaffen.
»Du irrst dich. Du machst einen Fehler. Kleines Mädchen wird tot«, sagte Theres. »Der Große tötet sie. Kein Fehler.«
Jerry bemühte sich, in deutlichen Sätzen zu sprechen, die Theres hoffentlich als wahr akzeptieren würde: »Doch, ein Fehler. Er wird sie nicht töten. Er wird ihr nicht wehtun. Er wird ihr … Worte sagen. Ein paar harte Worte. Dann wird sie gehen dürfen.«
Theres ließ ihr Messer eine Spur sinken. »Woher weißt du das?«
»Du musst dich auf mich verlassen.« Jerry zeigte auf die Türen zum Lager. »In ein paar Minuten wird sie dort wieder herauskommen. Sie wird nicht verletzt sein. Das schwöre ich dir.«
Das Messer stieg wieder auf Bauchhöhe, während Theres auf die Türen starrte, wartete. Jerry sah sich um. Zum Glück waren keine anderen Kunden im Laden, aber es konnte jederzeit jemand hereinkommen.
»Theres? Kannst du mir das Messer geben?«
Theres schüttelte den Kopf. »Wenn das kleine Mädchen nicht kommt, wird der Große tot.«
Jerry kratzte sich heftig am Hinterkopf. Die Kopfhaut war feucht, und es floss immer mehr Schweiß. Ihn befiel dieses schwindelnde Gefühl, dass sein alltägliches Zusammenleben mit Theres nichts anderes war als ein Balancieren über Hängebrücken. Letztendlich existierte eine Kluft zwischen ihnen, ein Abgrund, dessen Boden er nicht erahnen konnte. Jetzt wurde er für einen Augenblick sichtbar.
»Okay«, sagte Jerry. »Aber wenn … sobald das kleine Mädchen herauskommt, dann gibst du mir das Messer, ja?«
Theres nickte.
Sie warteten. Eine Minute verging. Zwei. Kein anderer Kunde betrat den Laden. Jerry stand neben Theres und starrte auf die geschlossenen Türflügel. Als eine weitere Minute verflossen war, begann eine irrationale Angst seine Brust zu umklammern. Dass Theres vielleicht recht hatte. Dass gerade jetzt ein Mord oder eine Vergewaltigung hinter diesen Türen stattfand. Er schielte zu Theres hinüber. Ihr Gesicht war hart, verschlossen. Dieses Mädchen musste sofort kommen, sonst würde etwas Schreckliches passieren.
Da kam sie. Die Türen öffneten sich, und der Blick des Filialleiters fiel auf Jerry, den er mit einem Nicken begrüßte. Er deutete auf das verheulte Wesen, das demütig hinter ihm aus dem Lager kam.
»Manchmal muss man eben Klartext sprechen, oder?«
Jerry nickte und machte einen Schritt zur Seite, um dasMesser vor den Blicken des Filialleiters zu verbergen. Das Mädchen ging weiter zum Ausgang, und der Filialleiter rief ihr nach: »Du darfst gerne wiederkommen.
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