Wolfskrieger: Roman (German Edition)
Bedeutung war.
Schließlich streckte eine Schwester, weil es sich richtig anfühlte, die Hand aus und löschte die Flamme. Das Licht verschwand, doch der Gedanke des Lichts, seine Überbleibsel, erfüllten die Geister der Hexen. Hinter der fetten gelben Flamme glaubten sie eine dunklere Farbe erkannt zu haben, ein helles Schiefergrau, ähnlich dem Himmel vor einem Unwetter. Sie folgten dem Hinweis und holten einen Becher Regenwasser von der Klippe. Ihnen fiel auf, dass das Wasser schwerer war als gewöhnliches Wasser, oder vielmehr, dass es ein Gefühl enthielt, einen Wunsch. Das Wasser, so dachten die Schwestern, wollte immer weiter fallen und wieder Regen sein. Es schmeckte scharf, nach Ozon. Der Gedanke an einen aufziehenden Sturm trat in den Vordergrund.
Eine Hexe stieg auf die Klippe und beobachtete die Vögel. Sie hatten die Nordwand verlassen und sich im Süden des Berges gesammelt. Im Tal suchten andere Tiere Schutz. Die Möwen waren landeinwärts gekommen, die Insekten vergruben sich in der Erde. Warum geschahen diese Dinge? Nur weil die Hexen zusahen. Die Tiere rührten sich nicht, um dem gewöhnlichen Bergvolk eine Weissagung zu schenken.
Also war das Omen klar – ein Sturm würde kommen. Ein magischer Sturm. Im Winter wurde die Botschaft noch deutlicher. Der Rauch, den der Wind herantrug, roch nach Bestattungsfeuern. Die Ratten, die durch die Höhlen liefen, schienen erregt und erwartungsvoll. Mehr Raben als Möwen ließen sich am Himmel blicken. Eine Vision vom Henkersbaum plagte die Hexen Tag und Nacht, das Knarren des Seils weckte sie aus den Träumen und störte die Rituale, zu denen es nicht gehörte. Der Tod umfing sie und wartete nur auf den richtigen Augenblick, sie zu berühren. Die Zeit der fein gesponnenen Ränke war vorbei.
Sie mussten eine Rune schnitzen. Auch die gewöhnlichen Menschen kannten Runen – eingeritzte Symbole, die es ihnen erlaubten, einfache Botschaften zu übermitteln oder etwas festzuhalten. Für die Hexen waren die Runen mehr als das, wichtiger noch als der Zauber, den ein Talisman barg, oder das Zeichen, das eine Schatzkiste behütete. Auf die gleiche Art wussten auch manche Heiler und die weisen Frauen in den Dörfern die Runen zu nutzen. Für die Hexen waren die Symbole Lebewesen, die sich im Geist verwurzeln und wachsen konnten, bis sie den Träger völlig verändert hatten. Die Runen nährten sich vom gesunden Verstand und trugen Blüten der Magie.
Das Runenschnitzen war eine Aufgabe, welche die Hexen sehr ernst nahmen. Die Runen waren mächtige Quellen der Magie, die Odin ihnen geschenkt hatte – oder vielmehr hatten die ersten Frauen, die sich in den Berg zurückgezogen hatten, sie dem dunklen Gott voller Qual und Pein und in selbstauferlegtem Wahn weggenommen.
Vor vielen Generationen hatte es nur eine einzige Hexe gegeben. Sie hatte allein in den Höhlen gehockt, ihr Geist war in der Dunkelheit versunken, bis ihre Qualen denen des Totengottes entsprachen, als er am Quell der Weisheit neun Tage und Nächte am Baum gehangen hatte und vom Speer durchbohrt worden war. Ihre Belohnung war eine Rune gewesen, die das Tageslicht symbolisierte. Sie trug keinen Namen, war aber in ihrem Geist erstrahlt und hatte ihr die Knochen wie die Sonne an einem Sommernachmittag gewärmt. Die Rune hatte ihr die Kraft geschenkt, die Menschen der Berge zu heilen und ihnen kurze Blicke in die Zukunft zu gewähren. Als Gegenleistung hatten die Menschen ihr drei Mädchen geschickt, die sie ausbilden sollte.
Eine von ihnen, Jahr um Jahr ertränkt, verhungert und erfroren, traf den Totengott am tiefen Teich und bekam eine Rune, die hell wie Wasser schimmerte. So konnte sie in den Geist der Menschen blicken und die Träume von Kindern in fernen Ländern träumen. Sie hörte eifersüchtiges Flüstern auf den Gebirgspässen und spürte das Auf und Ab von Liebe und Hass in den Gehöften der Menschen.
Eine andere beschritt einen neuen Weg zum Wissen. Sie grub sich selbst ein Grab, und die Schwestern verschlossen es mit einem Fels. Als ihr Verstand zusammenbrach, spürte sie den Gott neben sich in der winzigen Kammer liegen, berührte das Seil am Hals des Gottes und den kalten, leblosen Körper. Ihre Rune schien in ihrem Geist zu wachsen und zu verblühen, einmal verborgen von Erde und Kräutern, dann wieder kraftvoll und sichtbar. Als sie aus dem Grab geborgen wurde, atmete sie kaum noch, doch sie hatte die wertvollste Rune von allen gewonnen. Nun wussten die Schwestern um die Geheimnisse
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