Wolfskrieger: Roman (German Edition)
zwölf Mannshöhen tiefer. Wer dort hineinfiel, blieb im Loch stecken wie ein Korken in der Flasche. Der Schacht durchschnitt einen unterirdischen Wasserlauf, der durch einen Spalt in der Größe einer Faust eintrat und weiter unten wieder abfloss. Wenn nun eine Hexe an einem Seil ins Loch hinabgelassen wurde, tauchte sie bis zum Hals in fließendes Wasser ein.
Gullveig musste neun Tage dort zubringen, wenn das Ritual erfolgreich verlaufen sollte.
Die ersten drei Tage überstand sie qualvoll im Dunkeln. Schließlich war sie trotz allem immer noch ein Mensch. Ohne ihre Ausbildung hätte sie es allerdings nicht überlebt. Seit ihrer Kindheit hatte sie unerträglich lange fasten und meditieren müssen, sie hatte seltsame Pilze gegessen, war eingesperrt und wie die Toten begraben worden, sie hatte auf gefrorenen Hügeln nächtelang nackend im Mondschein gesessen, und nur die Kraft des Geistes hatte zwischen ihr und dem Tod gestanden. Also hielt die Hexenkönigin es aus und ließ, schmerzvoll und gepeinigt, ihre Menschlichkeit langsam hinter sich. Am vierten Tag befreite die Folter sie von ihrem Körper, und die Lichter flammten auf. Zwerge standen in der Dunkelheit und boten ihr Gold, Edelsteine und ein Schiff an, das aus Perlmutt zu bestehen schien. Sie wusste jedoch, dass es aus den Nägeln toter Menschen gemacht war. All das sollte ihr gehören, wenn sie nur die Schwestern rief und sich aus dem Wasser ziehen ließ. Am fünften Tag flammten grüne und purpurne Lichter an den Wänden auf, und die Geister der Felsen versuchten, sie aus dem Wasser zu heben, doch sie blieb. Am sechsten Tag waren die Ahnen an ihrer Seite, die Geister, die den Höhlen ihren Namen gegeben hatten. Hundert Königinnen, die weniger mächtig waren als sie und alle ein Teil von ihr waren. Sie war die Summe des Ganzen, das wusste sie genau. Alle toten Königinnen waren da, manche nackt und mit Schlamm und Pflanzenfarben beschmiert, manche schöner gekleidet als sie selbst. Sie riefen, plapperten, sangen und weinten im Dunkeln. Sie baten sie aufzugeben, spuckten sie an, wollten sie aus dem Wasser zerren, doch Gullveig gab nicht nach. Die Hexenkönigin war auf dem Weg zu ihrer Antwort. Am siebten Tag vernahm sie Stimmen und wusste, dass die Götter nicht weit waren. Am achten Tag war nur Schwärze, kein Gedanke kam ihr mehr, überhaupt nichts, denn sie rang mit dem Tode. Am neunten Tag endlich war sie wieder im Wasser, als wäre sie gerade eben erst hineingestiegen.
Es strömte nicht mehr, und ihr war warm. Weder die anderen Schwestern noch die Diener waren in der Nähe. Die Steine glühten so stark wie noch nie, in der Höhle war es hell wie am Tag.
Irgendwo in den Gängen ertönte eine hallende Stimme.
»Weißt du, was sie mir angetan haben? Weißt du, was sie getan haben?« Die Hexenkönigin sprach nur selten, doch sie konnte die Worte verstehen, die sie ebenso mit dem Geist wie mit den Ohren auffing.
Brandgeruch stieg ihr in die Nase, überhaupt nicht angenehm, ganz anders als von brennendem Holz oder Stroh. Es roch eher nach Haaren.
»Siehe, was sie mir angetan haben, was sie mir getan haben!«
Sie stieg aus dem Loch und ging in die unteren Höhlen hinab, dann noch tiefer, und folgte dem Brandgeruch und der Stimme.
»Ich bin blind, ich bin blind!«, rief jemand.
Die Hexe folgte weiter dem Ruf. Da unten waren die Höhlen enger. Hier war sie noch nie gewesen, und sie spürte, dass dies kein Teil der wirklichen Welt war, sondern ein Ort, den sie nur dank der Magie erreichen konnte. Sie schmeckte den schweren, bitteren Rauch in der Kehle. Die Stimme wurde lauter. Schließlich entdeckte sie im schwachen Licht eine Gestalt. Zuerst dachte sie, der Mann sei in Dunst gehüllt, doch als sie sich ihm näherte, hörte sie ein Zischen und erkannte, dass von dem sich windenden Körper etwas wie Dampf oder Rauch aufstieg.
Der Mann war nackt und mit blutigen, glitschigen Seilen an einen Felsblock gefesselt. Über ihm ringelten sich purpurne, grüne und gelbe Schlangen, deren Gift ihm ins Gesicht und in die Augen tropfte. Sein Gesicht war angeschwollen, er hatte dunkle Blutergüsse. Die Zunge war blauweiß gesprenkelt, auf der Haut zischte das Gift. Seine bleiche Haut war verbrannt und voller Schwielen, die roten Haare bis auf einige Flecken versengt. Er kreischte, heulte und zerrte an den Fesseln, konnte sich aber nicht befreien. Die Hexe hatte sich lange genug in niederer Magie geübt, um die Fesseln als das zu erkennen, was sie waren:
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