Wolfskrieger: Roman (German Edition)
Arme, um ihn zu trösten. Der Junge schaute zu ihm auf. Vali hatte erwartet, Vorwürfe oder Hass zu sehen, doch in dem Blick des Sterbenden lag etwas anderes. Verständnis, Mitgefühl, sogar Mitleid. Er fand es beängstigend.
Der Junge sah ihm in die Augen und sagte ein Wort, das Vali verstand: »Gott.«
Nun, dein Gott hat dir wohl nicht sehr geholfen, was?, dachte Vali. Er sprach es nicht aus, und nach wenigen Augenblicken tat der Junge seinen letzten Atemzug.
Vali stieg auf eine Knorr. Er hatte keine Lust, zusammen mit den Berserkern nach Hause zu fahren.
Wortlos packte er ein Ruder und hörte zu, wie die Männer sich Geschichten über den Überfall erzählten. Der Bauer Hrolleifr berichtete, wie er vor dem feindlichen Anführer gestanden und ihn niedergemacht hatte. Dabei ließ er aus, dass der Mann nackt gewesen war, vor ihm gekniet und um sein Leben gefleht hatte. Andere erzählten, wie sie zwei oder drei Gegner gleichzeitig angegriffen hatten, unterschlugen aber unbequeme Einzelheiten wie etwa die Tatsache, dass die Feinde unbewaffnet gewesen waren. Das Bemerkenswerteste an den Geschichten der tapferen Krieger war die Tatsache, dass sie selbst daran zu glauben schienen.
Er blickte zum Drakkar hinüber, als die Schiffe vom Strand ablegten. Der einzige Westmann, den die Berserker am Leben gelassen hatten, war inzwischen als Dankesopfer an Odin für ihre sichere Heimkehr erhängt worden. Der Mann baumelte am Mast und zappelte mit den Beinen, als wollte er weglaufen. Vali schwor sich, niemals die Hilfe dieses Gottes zu erflehen. Seine Anhänger, dachte er, waren eine Schande.
»Ich hasse dich, Odin«, sagte er, »und werde mich allen deinen Werken widersetzen.«
Aus irgendeinem Grund fühlte er sich danach besser. Er beugte sich vor, zog das Ruder durch und vergaß in der Anstrengung und im Rhythmus der Riemen die Welt.
Spielarten der Finsternis
M anche gedeihen im Licht und manche in der Dunkelheit. Feileg – der Knabe, den die Hexen behalten hatten – wuchs nicht im Sonnenschein der Küste auf, sondern bei den wilden Männern und Wölfen im Gebirge.
Die Hexenkönigin erkannte, dass der Junge, den sie zu sich genommen hatte, mit Hilfe einer Art von Magie vorbereitet werden musste, über die sie nicht verfügte. Ihre eigene Magie wurde vom gewöhnlichen Volk Seidhr genannt. Es war eine ganz und gar weibliche Kunst – eine Magie des Geistes. Gullveig hatte die Trennung zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgelöst und war verzaubert als Schatten eines Hasen oder Wolfs durch die Welt gereist, um in den Alptraum eines schlummernden Königs einzudringen. Die stoffliche Magie war ihr jedoch unvertraut. Deren Versenkungen und Meditationen forderten einen gewaltigen Tribut. Die Werke schwächten sie tagelang, mitunter war sie gar dem Tode nah. Ihre Gliedmaßen waren dürr, ihr Körper ausgezehrt. Sie war selbst kaum mehr als eine Rune, eher eine Anordnung von Linien als eine menschliche Gestalt. Die Jahre vergingen, und die Veränderung, die jedes Mädchen trifft, blieb aus. Sie würde niemals kommen. Die Hexenkönigin nahm dies als Preis für das Wissen hin. Sie würde ihr Leben lang einen kindlichen Körper haben – klein, schwach und nicht entwickelt. Der Werwolf konnte diesen Weg nicht gehen. Odin würde als Krieger auftreten und mit seinem Speer Tod und Verderben bringen. Ihr Beschützer durfte nicht schwach sein, doch Gullveig konnte nicht alles vollbringen, was dazu nötig war.
Der Werwolf, den sie erschaffen wollte, brauchte einen starken Körper. Die Berserker mussten ihn schulen, die Ulfhednar, die wie Wölfe lebten und kämpften und dank ihrer Ausbildung und ihrer Magie übernatürliche Kräfte entwickelten. Die Hexe sprach im Traum zu einem Berserkerhäuptling, der am Fuß der Trollwand das Kleinkind und als Dreingabe eine Ladung Arzneien von einem jungen Diener im Empfang nahm.
Bis zum Alter von sieben Jahren lebte Feileg auf den unteren Hängen der Berge bei einem kleinen Berserkerstamm, der für ihn sorgte, ihn fütterte, ihn die trunkenen Tänze lehrte und ihn schlug. An seinem siebten Geburtstag weckte ihn der Berserkerhäuptling, der ihn mitgenommen hatte, schon vor dem Morgengrauen und führte ihn in die Berge zurück. Der Winter hatte gerade begonnen, und das Laufen fiel ihm schwer. Der Berserker führte ihn über die Schneefelder, wartete auf ihn, wenn er fiel, trieb ihn an, wenn er müde wurde, brüllte ihn an, wenn er den kleinen Speer als Gehstock benutzen wollte, und warnte ihn, ja
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