Wolfskrieger: Roman (German Edition)
den Bergen war so etwas allerdings schwer zu bestimmen. Er vergewisserte sich, dass der Speer griffbereit war, und grub weiter. Unten im Tal ertönte ein Ruf, der dem ersten antwortete. Er grub weiter. Ein dritter Ruf, näher als die ersten. Er blickte auf und sah einen großen weißen Wolf, der viel größer war als er selbst, über sich auf der Klippe hocken. Das Tier war vor einem großen Felsblock gerade eben zu erkennen. Einen Herzschlag später war es im Schnee verschwunden. Feileg grub weiter. Das Leben bei den Berserkern hatte ihn gelehrt, nicht über Dinge nachzudenken, die er sowieso nicht ändern konnte. Er brauchte einen Unterschlupf, es wurde spät, er musste graben. Wenn die Wölfe kamen, würde er sterben. Wenn er ohne Schutz draußen blieb, würde er sterben. Wenn er auf einen Baum stieg, würde er sterben. Also musste er graben und hoffen, dass die Wölfe nicht kamen.
Doch sie kamen und versammelten sich lautlos auf der Anhöhe. Das Heulen hatte ihnen geholfen, sich gegenseitig zu finden. Jetzt waren sie still, um keine rivalisierenden Rudel anzulocken. Als die schwache Sonne hinter dem Hügel unterging und die metallische, purpurne Abenddämmerung begann, sahen acht Wölfe dem grabenden Jungen zu. Als sich der erste Wolf bewegte, packte Feileg den Speer und stieß einen Ruf aus.
Der größte Wolf war dunkler als die ersten, die er gesehen hatte. Er hatte einen schmutzig roten und grauen Pelz, war in der Schulter so hoch wie das Kind und offenbar viel schwerer. Als er Feilegs Ruf hörte, blieb er auf halbem Wege auf dem Abhang stehen. Der Berserker hatte Recht. Wilde Wölfe waren vor allem Aasfresser, erst an zweiter Stelle erlegten sie die Beute selbst, und Kämpfer waren sie nur, wenn es sich nicht umgehen ließ. In den verschneiten Wäldern verletzt zu werden bedeutete, dass die Beweglichkeit eingeschränkt war, und dies wiederum war gleichbedeutend mit Verhungern und Tod. Wie alle Tiere, zu denen auch der Mensch zählte, bevorzugten die Wölfe eine schwache und nach Möglichkeit wehrlose Beute.
Feileg fixierte das Tier und drohte mit dem Speer. Das Licht schwand, er konnte nicht mehr gut sehen. Es verschwamm ihm vor Augen, bis er Mühe hatte, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihm war. Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen Wolf, der ihn auf der rechten Seite umgehen wollte. Ein Blick nach links. Genau das Gleiche. Feileg empfand keine Angst.
»Ich bin verlassen und bereit zu sterben!«, rief er. »Wer von euch, meine Herren der Wälder, ist ebenfalls dazu bereit? Wenn ich in Odins Hallen bin und ihr vor seinen Füßen liegt, werde ich euch treten!«
Einer der Wölfe war jetzt hinter ihm, das konnte er spüren, und die anderen verteilten sich links und rechts. Dennoch zielte er mit dem Speer auf den schmutzigen rotgrauen Wolf. Er war der größte und musste sterben. Das wäre eine schöne Geschichte, die er an der Festtafel in der Halle des Allvaters erzählen konnte.
Der große Wolf kam im schwindenden Licht gemächlich auf ihn zu. Zum ersten Mal im Leben bekam Feileg Angst. Das Tier bewegte sich eigenartig, etwas stimmte mit ihm nicht. Die anderen Wölfe waren eher durch den Schnee geglitten. Dieser war sehr stark, ging aber unbeholfen. War er verletzt? In der Dämmerung konnte Feileg es nicht genau erkennen. Was stimmte mit ihm nicht? Er war riesig. Was der Junge zuvor einfach für ein großes Tier gehalten hatte, entpuppte sich allmählich als Ungeheuer von schrecklichen Ausmaßen. Der Wolf war so groß wie ein Mann, sogar noch größer. Sein Vater war der größte Mann, den der Kleine je gesehen hatte, doch diese Kreatur überragte sogar den Berserker.
Zehn Schritte entfernt blieb der Wolf stehen und betrachtete den Jungen. Feileg, der im Glauben erzogen war, sein Leben sei unbedeutend, und sein edelstes Schicksal sei es, im Kampf zu sterben, und für den dieses Schicksal so kostbar war wie Gold und ein Haus für andere, begann zu zittern. Das war kein gewöhnlicher Wolf, so viel war sicher. Es war eine Sagengestalt.
Das Tier senkte den Kopf zum Schnee. »Bruder«, sagte der Wolf.
Das Wort entstand schlagartig in Feilegs Kopf. Er blickte dem Tier in die Augen.
Dann begriff er es – es war ein Mann, der ihn unter einem Wolfsfell heraus anblickte. Er war groß und stark, wettergegerbt, und in seinem blonden Bart saßen Eiskristalle. Arme und Beine waren nicht von einem Fell bedeckt, sondern von einem langen Rentiermantel, wie ein Jäger ihn im Winter trug. Allerdings hatte der
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