Wolfskrieger: Roman (German Edition)
Mann weder Bogen noch Speer und trug auch keine Schneeschuhe oder Skier.
Auf einmal überwältigte Feileg all die Angst, die er zurückgehalten hatte, und ihm war schrecklich kalt. Der Nachthimmel schien über ihm zusammenzubrechen, und die Sterne erwachten wie die Augen einer Million Wölfe, die nach seinem Blut gierten.
»Hilf mir.« Feileg konnte die Tränen nicht länger unterdrücken.
Der Mann sagte nichts – er würde nie wieder sprechen –, sondern drehte sich um und ging den Hang hinauf. Der Junge folgte ihm, das Rudel kam hinterher. Der Berserker hatte getan, was die Hexen ihm aufgetragen hatten – er hatte das Kind an Kveldulf übergeben, den Abendwolf, den Gestaltwandler der Berge. Er war kein Werwolf, wie Feileg später begreifen sollte, sondern ein Mann, der durch Instinkt und Gedanken halb zum Tier geworden war.
Der Junge wuchs ebenso im Dunkeln wie im Licht auf. Es war nicht die finstere Felsengruft der Hexen, sondern die Dunkelheit des Nordens, in der die Sterne glänzen und Lichtstreifen über den Himmel fliegen, wo der Morgen Trugbilder von Städten bringt, die in der Ferne schweben, und der Abend sich in tiefer Stille über das Land senkt. Es gab kein Feuer, nur eine Höhle und die Körper des Rudels rings um ihn. Er konnte sich die Hände wärmen, wenn er sie in den Kadaver eines Rentiers schob, das die Wölfe gerissen hatten. Der Mond spendete ihm Licht, und er lernte rohes Essen schätzen.
In der Zeit der kurzen Wintertage aß er reichlich – die Tiere waren schwach und leicht zu erlegen. Der Sommer war die Zeit der Geister, dann herrschte ewiges Licht, und die Beute wurde rar. Feileg ging unermüdlich, aber oft erfolglos auf die Jagd, schlief kaum, sprach nie und vergaß nach Jahren des Schweigens die Sprache der Menschen. Er dachte wie ein Tier und stählte seinen Körper. Im Zwielicht einer Sommernacht schlug Kveldulf die Trommel und sang unmelodische Lieder. Sie schnitten die Blasen von Rentieren heraus, die seltsame Pilze gefressen hatten, und tranken den Urin, damit der Knabe in die Königreiche der Geister versetzt wurde, wo er durch dunkle Gänge und tropfnasse Höhlen rannte, aus unterirdischen Flüssen trank und spürte, wie die Finsternis der Unterwelt seinen Geist erweiterte. Er nahm etwas wahr, stark wie der Moschusgeruch der Rentiere, das in diesen Gängen lebte. Die Höhlen, dachte er, waren hungrig.
Als er wieder zu sich kam, schien es ihm, als könnte sein Körper sich von diesen Träumen nähren und würde unnatürlich stark und schnell. Mit zwölf konnte er ein Rentier mit bloßen Händen töten. Sein Speer war längst zerbrochen, und Kveldulf wollte ihm keinen neuen gestatten. Mit vierzehn ging er auf Raubzüge, die jedoch ganz anders aussahen als Valis Überfälle. Er hatte es auf Reisende abgesehen, die durch das Land zogen. Händler, die mit ihren Waren zum Walvolk in den Norden wollten, oder die Männer des Königs, die mit Schlitten und Skiern nach Süden reisten und den Tribut heimbrachten. Er und Kveldulf bestahlen sie, während sie schliefen, und griffen sie nur an, wenn sie erwachten und sich wehren wollten. Mit Zähnen und Nägeln zerfetzten sie ihnen die Haut, brachen Gliedmaßen und Hälse, drückten Schwerter zu Boden und rissen den Angreifern die Speere aus den Händen. Er konnte die Schreie der Männer in den Lagern verstehen, doch die Bedeutung der Worte, die Furcht, Qual oder Sehnsucht nach den Geliebten ausdrückten, entglitt ihm immer mehr.
Die Beute lagerten sie in ihren Höhlen hoch droben in den Bergen. Feileg bedeutete das alles nichts. Man konnte die Dinge nicht essen, und sie hielten einen nicht warm. Kveldulf ahnte jedoch, dass die schönen Kämme aus Walrosselfenbein, die goldenen Armreifen und die guten Schwerter dem Jungen eines Tages nützlich sein würden. Er würde zu den Hexen zurückkehren, und es konnte nicht schaden, der Hexenkönigin ein paar Geschenke mitzubringen. Dank seiner eigenen Begegnungen mit den Hexen war Kveldulf bekannt, dass ein Geschenk die Schwestern lange genug ablenken konnte, bis sie bemerkten, dass er kein Eindringling war, sondern dass sie sogar nach ihm geschickt hatten.
Mit fünfzehn sah Feileg die Welt wie ein Wolf. Er dachte wie ein Wolf, hatte einen starken Körper und benutzte die Zähne als Waffe. Die Bergwinde durchströmten ihn, es gab weder gestern noch morgen, er lebte für den Augenblick und dachte nicht weiter als eine Schneeflocke im Wind. In diesem Sommer war die Jagd besonders schlecht, und
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