Wolfskrieger: Roman (German Edition)
sie. »Angekettet und gefesselt. «
»Die Prophezeiungen sagen, Fenrisulfur wird eines Tages seine Fesseln zerreißen.«
Es lief Adisla kalt den Rücken hinunter. Diese Überlieferung hatte sie schon immer höchst beängstigend gefunden. Der Gott Loki hatte monströse Kinder, und eines davon war der riesige Fenriswolf. Die Götter hatten vor Fenrisulfur so große Angst gehabt, dass sie ihn mit einer List in Ketten gelegt hatten. Mit einem Strick, der Gelgia hieß, hatten sie ihn an eine Felsplatte namens Gjöll gefesselt und ihm ein Schwert in das Maul gestoßen, damit es offen blieb. Aus dem herausrinnenden Speichel war der Fluss Wan entstanden. Der Geschichte nach musste der Wolf dort ausharren, bis die Götterdämmerung Ragnarök anbrach. Dann würde er die Fesseln zerreißen und den Allvater Odin töten. Danach würde ein neues Zeitalter beginnen, in dem schöne, gerechte und anmutige Geister herrschten statt der korrupten, kampfeswütigen, rachsüchtigen und betrügerischen Gottheiten, die sie die Aesir nannten. Odin war deren Oberhaupt.
Ihr fiel ein Reim aus der Prophezeiung ein:
Brechen wird die Fessel, und der Wolf befreit –
vieles weiß ich, und mein Blick reicht weit.
Ihre Mutter hatte ihr die Geschichte erzählt, als sie noch klein gewesen war, und Adisla hatte sich geängstigt.
»Du bist wohl doch nicht der Fenriswolf«, erwiderte sie. »Sonst hättest du deine Fesseln längst gesprengt.«
»Nein.« Der Wolfsmann schien sehr traurig zu sein.
»Möchtest du etwas essen und trinken?«, fragte sie ihn.
»Ja«, sagte der Wolfsmann.
Adisla ging zur Halle. Alle bis auf Vali waren viel zu berauscht, um sie überhaupt zu bemerken. Vali warf ihr einen kurzen Blick zu und wandte sich ab. Sie holte etwas Brot und Schmalz von einem Tisch und nahm einen Becher mit. Auf dem Rückweg schöpfte sie Wasser aus dem Brunnen und tauchte den Becher in den Eimer. Dann ging sie zum Wolfsmann.
Sie fütterte ihn mit dem Brot und schob es ihm vorsichtig in den Mund, als hätte sie Angst, er könnte sie beißen. Er aß langsam und verschlang es nicht wie ein Tier, womit sie gerechnet hatte. Immer noch blickte er sie an, dachte sie. Sie hielt ihm den Becher an die Lippen.
»Mehr?«
»Ja.«
Drei – oder viermal füllte sie den Becher nach. Der Mann kam ihr überhaupt nicht wie ein Wilder oder ein Hexer vor. Seine Augen waren nicht wild, er hatte sie weder angespuckt noch verflucht. Adisla betrachtete ihn genauer. Er war Vali wirklich sehr ähnlich, aber das Gesicht war stärker von der Witterung gezeichnet und schmaler. Sie berührte seine Haare – auch die fühlten sich wie Valis Haare an. Sie wusste nicht, ob sie ihn immer noch für einen Hexer halten sollte.
»Ich dachte, Wolfsmänner können nicht sprechen.«
»Ich kenne sowieso nur zwei«, entgegnete er. »Einer spricht nicht, aber ich tue es, wenn ich muss.«
»Wann ist das denn?«
»Nicht sehr oft«, erklärte er.
»Ist deine Mutter eine Wolfsfrau oder eine richtige Wölfin? «, wollte sie wissen.
»Meine Familie ist genau wie du. Ich habe sie verloren, als ich klein war.«
»Sind sie gestorben?«
»Nein, ich habe sie auf einem Berg verloren. Danach hat sich mein Wolfsvater um mich gekümmert.«
Er war Vali noch viel ähnlicher, als Adisla gedacht hatte. Auch er war im Grunde schon sehr jung zum Waisenkind geworden. Warum tat ihr dieser Wolfsmann nur so leid? Warum war sie so von ihm fasziniert?
»Hat man dich einem Magier gegeben?«
»Keinem Magier, sondern einem Wolf.«
»Einem Wolf, der so ist wie du?«
»Ja.«
Sie schwiegen eine Weile, und sie gab ihm wiederholt Essen und Trinken.
»Warum hilfst du mir?«, fragte der Wolfsmann auf einmal.
»Das weiß ich nicht.«
»Deine Leute haben mich geschlagen und hier angebunden. Bist du eine Verräterin?«
»Ich mache das, was ich für richtig halte«, erwiderte Adisla. »Ich bin eine freie Frau, mir kann niemand etwas befehlen. «
Der Wolfsmann betrachtete sie sehr aufmerksam.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Ich bin ein Wolf.«
»Haben Wölfe keine Namen?«
»Nein.«
»Na gut, Wolf. Ich heiße Adisla.«
Jetzt wich er ihrem Blick aus und starrte den Boden an.
»Meine Familie hat mich Feileg genannt«, erklärte er, »aber ich habe meinen Namen verloren, als ich sie verlor.«
»Du bist an Freundlichkeiten nicht gewöhnt, Feileg.«
»Ich bin ein Wolf.« Wieder blickte er sie an. Seine Augen waren genau wie Valis Augen, zwar ohne den Humor, aber das Unbehagen, das sie so oft beim Prinzen
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