Wolfskrieger: Roman (German Edition)
Ihre Gedanken waren wie Trolle, die sie aus den dunklen Winkeln ihres Bewusstseins zu packen drohten. Sie suchte Vergessen im schönen Anblick des Mondes, der niedrig und riesig am dunstig-silbernen Himmel stand. Er war fast voll. Einen Monat oder etwas länger war ihr Schicksal an ihn gebunden gewesen. Gabelbart würde in wenigen Tagen heimkehren. Sie musste an die Geschichte denken, wie der Gott des Mondes zwei Kinder geraubt hatte, die an einem Brunnen Wasser schöpfen wollten. Nun fuhren die Kinder mit ihm in seinem Wagen über den Himmel, verfolgt von einem schrecklichen Wolf namens Hass, der nach ihren Fersen schnappte. Auch ihr folgte ein Wolf. Er war schon bei ihrer Geburt auf sie angesetzt worden – es waren ihre Stellung und ihr Rang. Was sie wollte, befand sich jenseits eines unüberwindlichen Flusses.
Auf einmal war ihr sehr kalt. Ohne es richtig zu bemerken, hatte sie sich in den Schatten einer bleichen Birke gesetzt. Die Dunkelheit unter dem Baum schien unnatürlich tief, und die Luft ringsherum regte sich nicht und legte sich schwer und drückend auf ihre Schultern. Hinter sich spürte sie etwas, ein Wesen, das aus kaltem Wasser und dunklen, feuchten Höhlen geboren schien.
»Ist da jemand?« Sie kam sich lächerlich vor, als sie es sagte.
Dann stand sie auf und sah sich um. Wie ein schwarzer Pfeil schossen Stare vor dem Mond vorbei, wendeten in einer wirbelnden schwarzen Wolke und flogen wie ein einziges Wesen zurück. Der unvermutete Richtungswechsel der Vögel ließ Adisla an tausend winzige Tore denken, die sich im Himmel öffneten und schlossen, und an eine Geschichte, die Vali ihr einmal erzählt hatte. Er hatte sie von einem arabischen Händler gehört, und sie drehte sich um einen Dschinn, einen Rauchdämon, der unglaublich groß war.
So schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden die Vögel wieder, und mit ihnen wich auch der kalte, bedrückende Hauch aus der Luft. Dann erst fiel ihr der Wolfsmann ein. Sie blickte zu der einsamen Birke hoch, an die er gefesselt war.
Neugierig stieg sie den Hügel hinauf, um sich den seltsamen Räuber anzusehen, der gezwungen war, sein Leben gegen ihres einzutauschen. Als sie die Birke erreichte, fand sie Tassi dort vor, den dicken Alten, der die Aufgabe erhalten hatte, den Gefangenen zu bewachen. Er hockte auf einem niedrigen dreibeinigen Schemel und wirkte sehr unglücklich. Neben ihm saß der Wolfsmann an den Baum angelehnt, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Er hatte immer noch den Beutel auf dem Kopf. Die Einwohner von Eikund teilten Valis Aberglauben, was Hexer anging, und wollten nicht Gefahr laufen, vom Wolfsmann verhext zu werden.
»Sei gegrüßt, Tassi«, sagte Adisla.
»Du willst doch hoffentlich nicht singen, oder? Er ist zwar ein Wolfsmann, aber das hat er nicht verdient. Wir kennen hier keine schlimmeren Strafen als das Erhängen.«
»Nein«, beruhigte Adisla ihn.
Sie betrachtete den Wolfsmann. Abgesehen vom Wolfsfell, das er sich über den Rücken gelegt und um den Rumpf geschlungen hatte, war er nackt. Seine Haut war mit einer grauen Schicht bedeckt, die sie für Kalkstaub hielt. Nur auf dem Bauch und der Brust gab es zwei freie, wundgeriebene Stellen.
Selbst für die Augen eines Bauernmädchens, das unter schwer arbeitenden Menschen lebte, hatte er erstaunlich kräftige Muskeln. Nicht einmal die Berserker, die Tränke benutzten und ständig mit Waffen übten, Ringkämpfe durchführten und ihre Kräfte maßen, waren aus diesem Holz geschnitzt. Die Muskelstränge des Mannes waren beinahe um die Knochen gewunden wie die Wurzeln einer Weide um einen Stein.
Sie hätte sich gern vergewissert, ob er wirklich gut gefesselt war, und fragte sich, ob ihn ein normales Seil überhaupt halten konnte.
»Ein nettes Exemplar, was?«, meinte Tassi. »Aber nach kurzer Zeit war ich es leid, ihn anzusehen, und jetzt hätte ich nichts gegen einen Schluck einzuwenden.«
Adisla schwieg. Sie hatte Angst vor dem Wolfsmann, fand ihn irgendwie aber auch anziehend. Traf es zu, was die Leute sagten? Hatte er den Kopf eines Wolfs, und konnte ihn nur der beste Stahl töten? Im Augenblick wirkte er nicht besonders gefährlich. Er war offensichtlich erschöpft und atmete schwer.
»Ich sagte, ich hätte nichts gegen einen Krug Bier einzuwenden«, wiederholte Tassi.
»Und?«
»Na ja, wenn du sowieso eine Weile hier bist, könntest du auch auf ihn aufpassen, und wenn er sich befreien will, holst du mich.«
»Hättest du dafür nicht ein paar Kinder
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