Wolfskrieger: Roman (German Edition)
Die Hexe lächelte. Jetzt würde er eine Klarheit und Weitsicht gewinnen, wie er sie noch nie im Leben besessen hatte. Er würde wissen, was zu tun war, wenn sie ihm die nächste Rune schickte. Sie nahm ihr kleines Lederstückchen und fuhr mit dem Daumen über die Wolfsangel. Der Zauberer spürte ihre Gegenwart, als sie an die Wolfsangel dachte und ihr Bewusstsein öffnete wie eine tödliche Blüte, um ihm den dunklen Nektar der Rune anzubieten. Sofort griff er gierig nach ihrem Geist und zerrte und riss an ihr. Die Hexe musste sich beherrschen, um auf jede Verteidigung zu verzichten und nicht augenblicklich zurückzuschlagen. Sie hatte das Gefühl, ihre Augen würden platzen, als der Trommelschlag des Zauberers die Rune aus ihr herausmeißelte. Sie stürzte nach vorn, blutete aus Nase und Mund und biss sich in die Finger, um sich von den Kopfschmerzen abzulenken. Dann nahm sie die Begeisterung und die Qualen ihres Feindes wahr, als die Rune ihre Tentakel in seinen Geist trieb. Die Hexe war zufrieden. Die Manifestation des Gottes hatte den richtigen Weg eingeschlagen, an dessen Ende er sich selbst vernichten würde. Jetzt konnte er tatsächlich den Wolf rufen, und dann würde er sterben. Sie löste sich aus der Trance und schauderte.
Die Erfahrung, eine ihrer Schwestern getötet zu haben, summte wie eine zornige Wespe durch ihren Kopf. Sie hatte einen weiteren Schritt in den Wahnsinn getan, doch es fühlte sich richtig an. Schließlich stand sie auf, ging zu der toten Schwester und saß eine Weile bei ihr. Es war gut, sich vor Augen zu führen, was sie getan hatte, die Bedeutung zu spüren, der alten Hexe über das Haar zu streichen und bei ihr im Dunkeln zu bleiben, während sie verweste. Mord, Reue und Kummer waren Werkzeuge, mit denen sie arbeiten konnte, um neue Gänge durch das Labyrinth ihres magischen Bewusstseins zu graben.
Sie stand auf und bemerkte nicht die Hand, die sie stützte.
23
Der laufende Wolf
F ür Vali war die Panik dieses Mal nicht ganz so schlimm, denn sie wurde durch die Müdigkeit gedämpft. Seine Standhaftigkeit war dahin, er atmete tief ein und spürte den Krampf in der Kehle, das unwillkürliche Zucken der Muskeln, die ihn zur Oberfläche zurücktreiben wollten. Er versuchte, sich zu entspannen und es einfach geschehen zu lassen. Und dann fiel die Angst von ihm ab und verschwand wie ein Ballaststein, der aus einem Boot geworfen wird.
»Er rührt sich nicht mehr«, sagte Hogni.
Orri schüttelte nur den Kopf und blickte nach unten. Es regnete jetzt sehr stark, vom Meer wehten kräftige Schauer herüber. Die ganze Welt schien aus Wasser zu bestehen. Der Sumpf und die Hügel, zwischen denen er lag, waren graue Flecken unter dem sturmgrauen Himmel.
Vali spürte die Gewissheit des Todes und fand sie beruhigend und tröstend, denn sie verhieß ihm das Ende aller Sorgen. Der Tod schien wie ein warmes Bett, in das er steigen konnte, willkommen wie dem Hungrigen das Fleisch.
Er spürte die Nähe von Wesen – feindliche Geister, dachte er. Inzwischen fühlte er sich in seinem eigenen Bewusstsein nicht mehr heimisch, sondern eher wie ein fremder Bewohner im eigenen Kopf. Ein Mann war da, ein verletzlicher Mann. Er kämpfte gegen eine Frau, deren Geist so tief und gefährlich war wie das Meer. Doch der Mann siegte. Er hatte der Frau etwas weggenommen. Valis normale Sinne und Gedanken konnten nicht erfassen, was es war. Er nahm es als Umriss wahr, als Einschnitt in den Dingen oder als Öffnung, die überall klaffte. Ein gezackter Riss im Gewebe der Schöpfung.
Vali war wieder im Tunnel, die Felsen glühten, als wäre er unter Wasser, die Luft war kalt und schwer. Er stand bis zu den Knien im Wasser. Als er zur Seite blickte, entdeckte er eine seltsame Gestalt. Es war ein Mann, der eine steife Wolfsmaske trug, die offenbar aus Holz und Pelz bestand. In der Hand hatte er eine flache Trommel.
»Warum bin ich hier?« Valis Stimme klang seltsam gedämpft.
Der Mann mit der Maske rührte die Trommel. Instinktiv begriff Vali, dass er etwas heraufbeschwören wollte, das sich bereits in ihm selbst befand. Das Licht waberte, und wieder erschien die Gestalt. Sie schien unter den Trommelschlägen zu erbeben, zu schweben, zu zittern und zu pulsieren. Schon bei der Geburt, so viel wusste Vali, wurde das Schicksal der Menschen festgelegt. Die Zukunft war wie ein Weg zwischen den Bergen, von dem man nicht abweichen konnte. Die Legende der Nornen, der drei Frauen, die unter dem Weltenbaum saßen und die
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