Wolfskrieger: Roman (German Edition)
musste kühn vorwärtsschreiten. Diese Idee hätte er nicht in Worte fassen können. Es war eher eine Sehnsucht, dem Freiheitsdrang eines Gefangenen nicht unähnlich. Irgendetwas fesselte ihn, und die Fesseln mussten brechen.
Die Männer zogen ihn hoch, und er lag schlaff wie Teichkraut in ihren Armen.
»Herr«, sagte Orri, »du hast es oft genug versucht. Dort gibt es für dich nichts zu holen.«
»Nein«, widersprach Vali. Es war mehr ein Husten als ein verständliches Wort. Die Männer drängten zum Ufer.
»Nein.«
Sie blieben stehen.
»Was ist, Herr?«
Vali wollte etwas sagen, wollte die Worte durch die verkrampfte Kehle hinausstoßen. Er war schwach und müde und musste sein Leiden beenden, was immer es ihn auch kosten mochte. Hinter dem Hügel, aus der Richtung des Meeres, ertönten Hörner und der Lärm vieler Menschen. Gabelbart kehrte zurück.
»Zieht mich nicht heraus«, sagte er.
»Willst du denn sterben?«
»Das Wasser.« Er deutete zum Sumpf. Erklären konnte er nichts mehr. Der Himmel war eine Höhle, schwarz vor Regen. Das Licht war unnatürlich, ein unirdisches Glühen wie in jenem Gang. Seine Sinne waren stumpf und trüb, als umfinge ihn immer noch die Dunkelheit des Sumpfs.
»Du bist nicht bei Verstand, Herr«, sagte Hogni. »Mutter Jodis, der Prinz verlangt, dass wir ihn wieder hineinwerfen.«
Jodis wippte nachdenklich mit dem Fuß, sah sich über die Schulter in Richtung des Meeres um und dachte an das Mädchen auf dem dänischen Schiff. Natürlich würden sie den Prinzen schließlich aus dem Sumpf herauslassen, doch es war wohl angebracht, ihm mehr Zeit zu geben. Viel mehr Zeit.
»Tut, was er sagt«, befahl sie.
Noch zögerten Hogni und Orri, doch Vali nahm ihnen die Entscheidung ab. Mit letzter Kraft riss er sich los und stürzte sich ins dunkle Wasser.
22
Magische Gedanken
D ie Hexenkönigin arbeitete gerade am Mondschwert, als ihr bewusstwurde, dass der Zauberer Vali gefunden hatte. Vor einer Weile hatte sie Authuns Waffe impulsiv an sich genommen. Es war keine Laune gewesen, wie gewöhnliche Menschen sie haben, sondern eine magische Eingebung. Sie wusste, dass die Klinge wichtig war, und in den Jahren, nachdem der König zur Höhle gekommen war, hatte sie den Grund dafür erkannt. Der Wolf würde Odin töten, doch dann musste auch der Wolf sterben. Die alten Prophezeiungen waren in dieser Hinsicht ganz eindeutig. Odin würde fallen, und dann musste ein anderer, sanfterer Gott den Wolf umbringen. Falls dieser Konflikt tatsächlich zu ihren Lebzeiten ausbrechen sollte, brauchte dieser Gott eine Waffe. Mit einer normalen Klinge konnte man den Wolf nicht töten, denn sonst wäre er seinerseits nicht fähig gewesen, den König der Götter im Kampf zu besiegen. Also musste das Schwert verzaubert werden.
In den unteren Höhlen gab es einen schmalen Felsvorsprung, wo die gezackte Decke auf den unebenen Boden traf. Die Stelle sah dem Maul eines Wolfs recht ähnlich. Deshalb hatte sie die Klinge genauso hineingeklemmt, wie das Schwert im Maul des Fenriswolfs steckte, und sich in den folgenden Monaten auf den Gedanken konzentriert, dass dieses Ding den wilden Gott verletzen konnte.
Die magischen Fähigkeiten der Hexe waren so stark, dass sie selbst schon eine Halbgöttin war. Ihre Wahrnehmungen unterschieden sich von den menschlichen. Sie flackerten nicht kurz auf und erloschen wieder, sobald die Aufmerksamkeit ein anderes Ziel fand, sondern verhielten sich eher wie Lebewesen. Spinnengedanken, die aus dem Ei ihres Bewusstseins über das Objekt ihrer Meditation krochen – das Schwert – und dort warteten, um das zu erhaschen, was der Waffe in Zukunft begegnen sollte. Sie überzeugte sich, dass die Waffe den Wolf töten konnte, und dass die Schwestern bei ihr saßen und das Gleiche glaubten. Am Ende ihrer Meditationen war diese Idee in das Mondschwert eingedrungen und konnte die Wahrnehmungen aller Wesen, die ihm später begegnen würden, verzerren. Dies schloss auch den Wolf selbst ein.
Gullveig war klar, dass ein Wesen, das fähig war, Odin zu bezwingen, nur mit einer starken Magie getötet werden konnte. Der König der Götter besaß die stärkste Magie, die ihr jedoch nicht zur Verfügung stand. Eine Hoffnung gab es allerdings. Der Prinz hatte Geschichten von den Schlachten seines Vaters und über das verlorene magische Schwert gehört. Wenn der Wolf ihn fraß, würde sein Wissen sich mit dem seines Bruders vermischen. Das, so glaubte sie, war der Schlüssel, um den Wolf zu
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