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Wolfskrieger: Roman (German Edition)

Wolfskrieger: Roman (German Edition)

Titel: Wolfskrieger: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. D. Lachlan
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Schicksalsfäden aller Menschen spannen, hatte er schon in frühester Kindheit kennengelernt. Jetzt wurde ihm etwas angeboten. Dieser Umriss, diese schreckliche, furchtbare Form, scharfkantig wie ein Messer oder eine Nadel, konnte seinen Lebensfaden durchtrennen und neu zusammenfügen. Das Ding hatte Haken und Ecken, war scharf und dennoch körperlos – eher eine Idee denn ein Gegenstand. Die seltsame Form brachte eine Störung in die Welt, die weitere Unruhe verursachte. Es war eine Rune, das konnte er jetzt erkennen. Sie zeigte sich aber nicht völlig klar, sondern schwebte am Rande seines Bewusstseins wie ein Gedanke aus einem halbvergessenen Traum.
    Der Rhythmus der Trommel schlug Vali in seinen Bann, und er hatte den starken Drang, sich im Tunnel ins Wasser zu legen. Er gab nach, lehnte sich zurück und streckte die Arme aus. In den Beinen knickte er ein, den Kopf nahm er nach vorn. So ähnelte seine Haltung der Form, die sein ganzes Wesen vereinnahmt hatte und sein Schicksal formte. Die Wolfsangel. Er war jetzt nur noch ein Ausdruck ihrer Bedeutung.
    Ihm war klar, dass er eine Entscheidung treffen musste: diese Gestalt oder überhaupt keine, die Rune oder der Tod. Dann veränderte sich etwas, und er war nicht mehr die Rune. Er stand auf. Die Rune war der Wolfsmann, den er in den Hügeln gefangen hatte. Er schwebte vor ihm im Wasser des Tunnels. Dann war sie jemand anders. Adisla. Das Mädchen lag flach auf dem Boden, das Kleid weit ausgebreitet, die Arme gestreckt und die Knie auf die gleiche Weise gebeugt wie er. Anscheinend schwebte er über ihr, oder sie unter ihm, und sie drehten sich umeinander.
    »Liebste, wo bist du?«
    »Ich bin …«
    »Das ist die richtige Stelle.« Eine neue Stimme. Er hatte sie schon einmal gehört, so viel war sicher. Ja, so hatte der Mann im Schildwall gesprochen, der seltsame bleiche Kerl mit dem Mantel aus Falkenfedern. Hatte der Trommelschlag auch ihn herbeigerufen?
    »Was für eine Stelle?«
    »Die Stelle, wo du dich verirrst.«
    Die Trommelschläge erschütterten ihn durch und durch und wollten etwas wecken, das in ihm ruhte. Etwas war in Bewegung geraten, ähnlich dem Schritt, der einen Erdrutsch auslöst. Ein Brüllen. Es war eine Stimme, die er noch nie gehört hatte – ein würgender, keuchender Ausdruck ungezügelten Hasses.
    Plötzlich lag er am Boden, und wo Adisla sich befunden hatte, erschien ein riesiger geifernder Wolf, viel größer als er selbst. Das Wesen war an einen Fels gefesselt. Die dünnen Schnüre schnitten tief in sein Fleisch ein. Er wehrte sich, wand sich und wollte aufstehen, doch er schaffte es nicht. Die Bewegungen erinnerten an ein Tier, das im Geburtskanal eingeklemmt war und dessen Beine noch nicht stark genug waren, um es zu befreien. Am schlimmsten war das Maul, eine klaffende blutende Wunde, aufgesperrt von einer stumpfen Metallstange.
    Auf einmal hörte er eine trockene, gehetzte Stimme. Die Worte rollten wie Kieselsteine durch seinen Kopf: »Sobald die Götter sicher waren, dass Fenrisulfur völlig gefesselt war, nahmen sie einen Strick namens Gelgia und banden ihn an einen Felsen namens Gjöll. Als das Tier versuchte, die Götter zu beißen, stießen sie ihm ein Schwert ins Maul, damit sich die Kiefer nicht schließen konnten. So wird der Fenriswolf ewig im Wachen und im Schlafen in Qual und Folter leiden. Wenn das Ende kommt, werden die Fesseln bersten, und die Götter werden vernichtet.«
    Das Wesen wehrte sich gegen die Bande, erhob sich halb, brach zusammen, kam taumelnd hoch und drängte abermals nach vorn. Keuchend richtete es den riesigen Kopf auf Vali. Die Laute seiner Qualen klangen wie das Eisen auf dem Stein eines Schmieds, nur tausendfach verstärkt. Eine knirschende, misstönende Melodie ewiger Pein.
    Vali hatte große Angst – aber nicht die Angst, die er im Schildwall und im Kampf empfunden hatte. Mit jener Angst konnte man umgehen, man konnte sie ins Auge fassen und ihr erklären, dass man sich gleich mit ihr befassen werde, wenn sie nur einen kleinen Moment lang zurücktreten könne. Dies hier war wie die Angst zu ertrinken oder lebendig begraben zu werden. Dies war die nackte Angst vor der Auslöschung, vor der Hand des Todes, die alle Sinne blockiert und den Atem erstickt. Vor dieser beklemmenden Angst verging jeder vernünftige Gedanke, man konnte nur noch wild um sich schlagen und doch nichts ergreifen, überhaupt nichts, und das einzige bewusste Ziel, der einzige klare Gedanke war: »Nein, nicht, nein!«
    Vali

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