Wolfskrieger: Roman (German Edition)
helfen, ihn stärken und sich selbst schwächen. Dadurch würde sie der Aufmerksamkeit des Totengottes entgehen und ihn verleiten, sich auf sein eigenes irdisches Selbst zu konzentrieren. Er hatte ohnehin schon genug gesehen, um sich auf diesen Weg zu begeben, das konnte sie erkennen. Seine Visionen hatten ihm den Wolf und die Knaben gezeigt, und jetzt versuchte er, das Tier heraufzubeschwören, um dessen Beschützer zu werden. Dazu benutzte er das Mädchen. Die Wolfsangel zeigte der Hexe, dass die Tochter der Heilerin mit den Brüdern und ihrer letztendlichen Verwandlung verbunden war. Gullveigs Feind hatte fast alles richtig vorbereitet, um den Wolf anzurufen. Ohne ihre Hilfe würde er es allerdings niemals schaffen.
Der Tod der Mädchen in den Hexenhöhlen war kein Angriff gewesen, sondern eine Art Prophezeiung oder Anleitung, vielleicht sogar eine Manifestation ihrer eigenen Magie, die ihr mitteilen wollte, was zu tun war. Die Schlüssel der Magie waren Qual und Schock, wie die Hexen schon lange wussten. Jetzt erkannte sie, dass Schwäche der Schlüssel zum Überleben war. Sie würde die Macht der Schwestern dämpfen und zugleich die ihres Feindes vergrößern und ihm helfen, die Magie zu wirken, die ihn selbst zerstören würde. Sie hatte angenommen, sie müsste den Wolf rufen, der den Gott vernichten würde. Jetzt wusste sie es besser. Der Gott selbst konnte den Wolf beschwören.
Der Zauberer hatte auch ohne die Runen viel erreicht. Mit ihnen, so dachte sie, würde er seinem Schicksal rasend schnell entgegenstürzen. Gullveig beschloss, ihrem Feind ein Geschenk zu schicken.
Eine der älteren Schwestern, die Besitzerin der Rune, die im Dunkeln wie eine Laterne leuchtete und den Visionen der Hexen Weitblick und Klarheit schenkte, lag in den oberen Höhlen im Sterben. Die Nachfolgerin saß ihr zu Füßen in tiefer Versenkung und war bereit, die Rune in sich aufzunehmen. Das, so dachte Gullveig, sollte nicht geschehen.
Disa hatte Recht gehabt, was die Magie anging. Ein Zauberspruch war kein Rezept. Wenn man im dunklen Kochkessel des Geistes etwas ausbrüten wollte, reichte es nicht aus, ein paar Zutaten und die Methoden zum Vermischen zu kennen. Die Magie war vielmehr ein Rätsel, bei dem man zuerst feststellen musste, was dazugehörte, um die Teile dann zu einem Ganzen zu verbinden. Oder wie eine Stickerei, die aus Schmerzen und Verleugnung statt mit Nadel und Faden entstand.
Auf den höheren Ebenen war die Magie eine Sache des Gefühls. Die Hexenkönigin, die jahrelang im Dunkeln ihren Instinkt geschult hatte, wusste, dass kühles Denken allein in der Magie überhaupt nichts bewirkte. Um ihr Ziel zu erreichen, musste sie mit einfachen Dingen beginnen, die unsichtbaren Fäden in die Hand nehmen – den einen, den man Qualen nannte, und den anderen, der Verzweiflung hieß –, und sie zu etwas verweben, das mehr war als die Summe seiner Teile.
Gullveig versank wieder in Trance und dachte an die sterbende Hexe. Sie atmete flacher, und in ihrem Mitgefühl wurden auch ihre eigenen Gliedmaßen schwach. Die Hexenkönigin dachte an Verwesung und Krankheit, an die aufgeplatzten Leichen der Opfer des Fiebers, an den stinkenden Atem sterbender alter Frauen. Der Geruch blieb an der Hexenkönigin haften, und ihr war klar, dass der Tod der alten Hexe richtig war, eine schöne und gute Sache.
Die Hexenkönigin wanderte mit der Frau durch die Erinnerungen, die auf dem Totenbett erwachten. Sie sah, wie die Alte als Mädchen in die Höhlen gekommen war, sie spürte die Angst vor der Dunkelheit und die Qualen, als sie ausgebildet wurde, die Begeisterung, als die Rune endlich in ihr erwachte und sie fest mit ihren Schwestern verband. Die anderen Hexen nahm sie als gespenstische Schatten im Bewusstsein der alten Frau wahr. Sie näherte sich ihnen und erklärte ihnen, es sei an der Zeit, Abschied zu nehmen und der Schwester Lebewohl zu sagen. Die Hexen verschwanden, und die Gedanken der alten Frau ebbten ab. Als die Schwestern fort waren, war Gullveig allein mit der Sterbenden in deren trübem Bewusstsein. Die Rune leuchtete im Zwielicht wie eine Laterne.
Gullveig nahm sie, und die Hexe starb. Im Dunkeln wartete das Mädchen, das sie empfangen wollte. Immer noch in Trance versunken, hob die Hexenkönigin die Hand, und das Mädchen starb auf der Stelle. Dann kehrte sie zu Vali in den Sumpf zurück und schickte das Symbol zum Zauberer.
Sie hörte einen Schrei, und der Rhythmus der Trommel brach, als die Rune in ihn eindrang.
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