Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
ahnten nicht, dass sechzehn Druids in ihre Richtung unterwegs waren. Keiner hatte die anderen bisher bemerkt. Erst als ein paar Kojoten zum Kadaver liefen, kam Bewegung in die Szene. Wie die Kavallerie kamen die Druids über den Hügel geflogen, die Schwänze und das Nackenfell hoch, die Ohren nach vorn gerichtet. Das Leitwolfpaar und ein grauer Jährling an der Spitze. Die Sloughs flohen nach Westen. Die Druids waren zwar weniger Wölfe, aber es waren überwiegend starke, erwachsene Tiere. Die Kojoten stoben in alle Richtungen. Einige der Slough-Jährlinge hatten noch nicht begriffen, was los war. Sie standen verwirrt am Kadaver. Rennt!, schrie ich ihnen in Gedanken zu. Rennt um euer Leben.
Die Druids mussten den Fluss durchqueren, um die Sloughs zu erreichen. Das verschaffte den Angegriffenen einen kleinen Vorsprung. Wie ein Fächer verteilten sich die Druids. Zogen durch den Fluss über die Hänge. Die Choreografie schien perfekt einstudiert. Nur dass sie hier keiner Anleitung folgten, sondern ihren Instinkten. Sie erreichten den ersten Slough-Jährling. Ich war überrascht, dass sie ihn einfach überholten, und hoffte noch, dass sie die anderen nur in die Flucht schlagen würden. Aber dann schnappten sich die Druids den zweiten Jährling.
Sie stürzten sich in einem Kreis auf das unglückliche Opfer. Schnell war es vorbei. Sie ließen den toten Wolf liegen und rannten weiter nach Westen, immer auf der Spur der flüchtenden Sloughs. Zum Glück erwischten sie keinen mehr.
Die Druids kamen zurück zum Hirschkadaver und legten sich mit bebenden Flanken nieder. Die Ruhe nach der Jagd. Die Druid-Jungwölfe waren immer noch irritiert vom ganzen Geschehen und entsprechend schreckhaft. Einer von ihnen fraß gerade am Kadaver, als ein Kojote mutig beschloss, ihn fortzujagen, um sich seinen Teil zu holen. Er lief auf den Wolf zu. Dieser schoss hoch wie eine Rakete und rannte los, vorbei an den ruhenden Druids, die nun ihrerseits aufsprangen und ihren eigenen Jährling in den Wald jagten. Jeder jagte |94| jeden, und keiner schien mitzubekommen, dass alle aus derselben Familie waren. Die Nerven lagen blank. Schließlich klärte sich die Lage, und die Situation entspannte sich. Die Druids legten sich erschöpft zur Ruhe.
Mir taten die Sloughs leid. Sie hatten schon so viel durchgemacht. Für eine kurze Zeit hatten sie über das beste Wolfsgebiet von Yellowstone geherrscht. Nun hatten sie ihr Revier und außerdem noch einen ihrer Jährlinge verloren. In den nächsten Tagen waren sie sehr unruhig. Sie suchten und heulten, bis sie sich schließlich in ihr früheres Revier am Slough Creek zurückzogen.
Bei kriegerischen Auseinandersetzungen geht es bei den Wölfen – ähnlich wie bei uns Menschen – im Endeffekt stets um die beiden wichtigsten Grundbedürfnisse: Nahrung und Platz.
In den ersten Jahren nach der Wiederansiedlung, als es ausreichend Beute und Lebensraum gab, vermehrten sich die Wölfe explosionsartig. Der Platz wurde langsam eng. Einzelne Wolfsfamilien versuchten, anderen Wölfen ihr Revier abzunehmen. Es begann eine Zeit der Kämpfe und Streitigkeiten. Krankheiten brachen aus. Viele Welpen und erwachsene Wölfe starben an Parvovirose, Staupe und Räude. Was einerseits wie eine Tragödie anmutet, hat andererseits durchaus einen Sinn. Infolge der Krankheiten reduzierte sich die Population selbst. Im Grunde sorgt die Natur auf diese Weise dafür, dass in Yellowstone nur so viele Wölfe leben, wie das Gebiet ernähren kann.
Wölfe sind territoriale Tiere und verteidigen ihr Revier. Es ist ihre Heimat. Sie bietet ihnen Schutz, Sicherheit und Nahrung. Manchmal beneidete ich die Wölfe um diese Beständigkeit, um die Gewissheit, irgendwohin zu gehören.
Was bedeutet Heimat für mich? Viele Jahre konnte ich mit dem Begriff nicht allzu viel anfangen. Ich war überall auf der Welt zu Hause. Als ich gleich nach dem Abitur meine Ausbildung zur Stewardess bei der Lufthansa machte, sagte eine |95| erfahrene Kollegin zu mir: »Kindchen, überleg dir das gut. Wenn du einmal anfängst zu reisen, kommst du nicht mehr davon los.«
Wie recht sie hatte. In meiner Zeit als Stewardess bereiste ich fast alle Länder dieser Erde. Hotels und Flughäfen waren mein Zuhause. In meine Wohnung kam ich nur noch, um meine Kleider zu waschen und die Koffer neu zu packen. Für Familie oder Freunde hatte ich kaum noch Zeit. Man konnte keine Verabredungen mehr mit mir treffen. Wann immer ich einmal länger als drei Wochen zu Hause war,
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