Wolfskuss - Handeland, L: Wolfskuss
war das, was die Leute unter einer Schamanin verstehen. Sie benutzte natürliche Arzneie n – Kräuter, Rinden, Molchsaugen.“ Er zwinkerte. „Sie beherrschte die alten Künste und gab sie an mich weiter.“
„Beherrschte?“
„Sie ist an Lungenentzündung gestorben, als ich zehn war. Manche Dinge kann man nicht heilen.“
„Das tut mir leid.“
„Mir hat es auch leid getan.“
Meine Hand lag auf seiner Brust. Sein Herz schlug gleichmäßig unter meiner Handfläche. Im Zimmer war es still, und ich dämmerte langsam dem Schlaf entgegen.
„Warum hältst du so wenig von dir?“, fragte er.
„Was?“ Ich kämpfte darum, diesem plötzlichen Themawechsel zu folgen. „Das tue ich nicht.“
„Ach, stimmt ja. Deshalb bist du auch so besorgt, was die Leute denken könnten. Die Schöne und das Biest, nur dass ich offensichtlich in die Rolle der Schönen schlüpfen soll. Da liegt eine Verwechslung vor.“
„Ich weiß, wer ich bin. Ich habe meine Stärken. Ein Mädchen zu sein gehört nicht dazu.“
Seine freie Hand glitt über meine Hüfte und legte sich auf meine Pobacke. „Ich denke, da irrst du dich. Du gibst ein sehr nettes Mädchen ab.“
„Das musst du schließlich auch sagen.“
„Ja, das muss ich, weil ich nämlich denke, dass du wunderschön bist.“
„Du bist unbeholfen und blind.“
„Sei nicht so sarkastisch.“
„Aber darin bin ich gut.“
„Stimmt. Das bist du.“ Er küsste mich wieder auf den Scheitel. „Sag mir nicht, dass du nicht schön bist, denn ich weiß, dass du es bist.“
Ichverkrampftemichinnerlich.GesprächewiediesesmachtenmichnervöseralseinBetrunkenermiteinerabgebrochenenFlasche.Damitkonnteichumgehen.AbermitKomplimenten?Ichwollte wegrennen, mich verstecken, nie mehr zurückkommen.
Weil ich, wenn ich sie glaubte, nur noch mehr verletzt werden würde, sobald ich entdeckte, dass er gelogen hatte. Aber warum sollte er lügen? Es fiel mir kein echter Grund ein. Im Moment.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, zog Cadotte mich enger an sich. „Du bist etwas ganz Besonderes für mich, Jessie. Lauf nicht davon, bevor wir herausgefunden haben, was das bedeutet, okay?“
„Okay“, sagte ich, noch bevor ich mich bremsen konnte.
„Also, wann hast du angefangen, meine Werwolf-Illusion zu teilen?“
Ich zögerte. Sollte ich es ihm sagen oder nicht? Ich wollte mit jemandem darüber sprechen, und warum nicht mit Cadotte. Ich wusste, dass er mich nicht auslachen würde. Zumindest nicht sehr.
Ich erzählte ihm alles. Über Mandenauer und seine Geheimorganisation. Über die Wölfe, die ich gesehen hatte. Tina. Die Höhle. Den Mann-Wolf-Schatten an der Wand.
Er hörte zu, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. An bestimmten Punkten der Geschichte hörte ich sein Herz plötzlich schneller schlage n – aber meinem erging es genauso. Als ich fertig war, herrschte Schweigen im Schlafzimmer.
Esdauertezulangean,undschließlichhobichdenKopf,um ihm ins Gesicht zu sehen. Ich war innerlich angespannt, da ich halb damit rechnete, dass er mich trotz seiner okkulten Überzeugung anstarren würde, als ob ich den Verstand verloren hätte. Die Geschichte laut zu hören hatte auch in mir selbst neue Zweifel geweckt. Aber sein Ausdruck war nachdenklich, abwägend. Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen.
„Was ist?“, fragte ich.
Er zuckte zusammen, sah zu mir und lächelte, aber er wirkte geistesabwesen d – es war nicht das Lächeln, nach dem ich inzwischen so verrückt war.
„Was für eine Geschichte“, murmelte er.
„Was denkst du darüber?“
„Ich denke, dass die Regierung immer verdammt viel mehr weiß, als sie zugibt.“
„Mann, was für eine Überraschung.“
Er lachte. „Das ist mein Mädchen. Du wirst bestimmt bald hinter jeder Ecke eine Verschwörung vermuten.“
„Das tue ich bereits.“
„Hhmm.“
Er war wieder abwesend und nachdenklich. Ich hatte zuvor noch nie etwas mit einem supergescheiten Professor gehabt. Mir kam der Verdacht, dass er oft auf diese Weise in seine Gedanken abdriftete.
„Kennst du Tina?“, fragte ich.
„Tina?“
„Das vermisste Mädchen.“
„Ich bin mir sicher, dass ich sie kenne. Aber ich bekomme sie im Moment nicht zu fassen.“
„Das tut auch sonst niemand.“
„Ich dachte, sie wäre nur noch Asche?“
„Vielleicht. Kommt es dir nicht seltsam vor, dass sie in deinem Kurs war?“
„Nicht wirklich. Wir gehen davon aus, dass jemand versucht, sich zum Wolfsgott zu erheben. Dabei handelt es sich um
Weitere Kostenlose Bücher