Wolfslied Roman
fürchtete ich mich allerdings nicht so sehr vor den Manitus, wie ich das als Mensch getan hatte.
Trotzdem jaulte ich erschrocken auf, als wir auf eine Stelle trafen, wo die Luft so schwer auf mich herabdrückte, als müsste ich mich durch tiefes Wasser kämpfen. Ich wusste, dass unsere Realität hier durch die des großen Bären in Beschlag genommen worden war. Ich versuchte ihn mir als franko-kanadischen Holzfäller vorzustellen, doch in meiner momentanen Gestalt spürte ich ihn nur als mächtiges, riesiges Tier. Als Wolf und Bär waren wir zumindest keine natürlichen Feinde. Es existierten vielmehr alte Abmachungen zwischen unseren Rassen, die es uns erlaubten, unsere Beute zu teilen, falls genug Fleisch für beide vorhanden war.
Und es gab eine frisch erlegte Beute. Ich roch Blut. Für einen
Augenblick konnte ich nicht ausmachen, um welches Tier es sich handelte. Doch dann begriff ich auf einmal: Es war das Blut eines Menschen.
Ich wimmerte und wich vorsichtig zurück, um den Ort so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Red leckte mir über das Ohr, um mich zu beruhigen. Dann setzte er auf die Grenzlinie zwischen unserem Wald und der liminalen Zone mehrere Duftmarken. Selbst als Wolf fielen mir die Symbole auf, die hier in die Baumrinden geritzt waren. Und ich war noch Mensch genug, um sie als dieselben zu erkennen, die sich auf Reds Messergriff befanden: die Bärenklaue, das Schamanenauge, die Kojotenspuren. Ich hatte keine Ahnung, ob sie etwas abwehren oder eine Fährte markieren sollten. Aber ich wusste instinktiv, dass es sich um Erinnerungszeichen handelte, die eine Grenze zwischen Territorien deutlich sichtbar festhalten sollten.
Wir ließen den Toten zurück, ohne ihn uns genauer anzuschauen, und machten uns wieder auf den Weg in unseren Wald. Schon bald hörte mein Wolfsbewusstsein auf, sich um Bruin und seine gefährliche Präsenz in unserem Gebiet Sorgen zu machen. Das Menschliche in mir konnte sich nicht länger auf eine mögliche Bedrohung konzentrieren, denn Wölfe sind wie alle Tiere Lebewesen, die ganz im Hier und Jetzt existieren.
Als wir eine kleine Baumgruppe erreichten, hielt Red inne und schnüffelte. Etwas Großes kam aus einem Versteck hervor, und er stürzte los. Ich folgte ihm auf den Fersen und erhaschte einen Blick auf den hüpfenden weißen Stummelschwanz eines Rehs, das vor uns herrannte. Mein Herz pochte wild. Ich spürte, wie sich mein ganzes Bewusstsein auf die Verfolgung der Beute konzentrierte. Es
war ein altes Damtier, und wir jagten es durch den Wald und über das von Schnee bedeckte Weizenfeld am östlichen Rand der Stadt in der Nähe der Behemoth-Höhlen. Nach einer Weile wurden wir müde, und Krähen, Falken und Truthahngeier kreisten in Vorfreude auf einen Kadaver über uns. Auch Füchse und Kojoten sammelten sich hinter uns, hielten aber respektvoll Abstand, während Red und ich den schwierigsten Teil der Arbeit erledigten. Wir schnappten nach den Hufen des Damtiers und brachten es schließlich auch zu Fall.
Doch gerade als wir uns auf unsere Beute stürzten, hörten wir das Heulen eines rivalisierenden Rudels. Zuerst waren es nur Hunter und Magda, die uns signalisierten, dass sie sich in der Nähe befanden. Doch dann vernahmen wir auch noch weitere Stimmen - die von zwei jungen Männchen. Es mussten Magdas Brüder sein, die gekommen waren, um sich dem Rudel ihrer Schwester anzuschließen. Noch konnten wir sie nicht sehen, aber der Wind trug uns ihre Gerüche zu. Daran konnten wir erkennen, dass die neuen Männchen nicht in der Lage waren, sich ganz in Wölfe zu verwandeln - was sie zu schlechten Jägern, dafür aber zu umso besseren Kämpfern machte.
Als der Mond abnahm, machten wir uns auf den Heimweg. In der Nähe unserer Hütte stellten wir fest, dass Magda mit ihrem Rudel in unser Territorium eingedrungen war und es mit Duftmarken besetzt hatte. Ein starker öliger Duft erfüllte die Luft. Ein Wolf hatte seinen Kopf und Hals an einer Baumrinde gerieben - das typische ›Kilroy was here‹-Graffiti eines aggressiven Männchens in den besten Jahren. Außerdem konnten wir noch schärfere, beißendere Markierungen ausmachen, die klar signalisierten: ›Kein
Zutritt‹, ›Achtung - Wachhund‹ und ›Unbefugten ist das Betreten verboten‹.
Es war jedoch nicht Hunters Geruch. Also musste er einem der Brüder gehören. Magda hatte offenbar einen der beiden als Alphamännchen gewählt, während Hunter ihr Gefährte blieb. In der Wildnis war es nichts
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