Wolfslied Roman
verblüfft um. Tatsächlich saß Jackie in dem Pavillon auf dem Marktplatz unseres Städtchens, wo zu Weihnachten Santa Claus die Kinder begrüßte. Wie bei diesem wartete auch vor Jackie eine lange Schlange von Menschen mit leuchtenden Augen - in diesem Fall allerdings allesamt Männer. Diese trugen nur noch Hemden und keine Jacken mehr und brachten Jackie entweder Hühner oder Ziegen und Schweine, die sie an einem Strick mit sich führten.
Jackie saß in einem violetten Seidennegligé in der Mitte des Pavillons. Um sie herum hatten sich ihre Wolfshybriden versammelt und lagen in einem Halbkreis auf Decken und Fellen vor ihr.
»He«, murrte ein Bauer, als ich an der Schlange vorbei nach vorne drängte.
Ich achtete nicht auf ihn. »Jackie«, rief ich. »Was um Himmels willen tust du hier?«
Sie erhob sich nicht einmal von dem Lager, das sie sich da gemacht hatte. »Wonach sieht es denn aus?«
Eine höfliche Antwort gab es auf diese Frage nicht. »Alles in Ordnung?«, wollte ich wissen. »Wie wäre es, wenn du das hier abbrichst und mit Malachy und mir mitkommst? Wir könnten auch Red für dich anrufen.«
Sie lächelte, und zumindest dieses trockene, leicht resignierte Lächeln wirkte wie immer. »Meine Liebe, Red wird seinen Weg zu mir finden. Heute bin ich die Hohepriesterin, und die Göttin haust in mir. Alle Männer beten mich an. Selbst deinem Mann wird nichts anderes übrigbleiben, als mich anzubeten.«
Ich schüttelte den Kopf, während ich noch überlegte, wie ich sie überreden konnte mitzukommen. »Jackie, ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Aber so bist du nicht. Und wenn du wieder zur Besinnung kommst, wirst du das Ganze garantiert bereuen.«
»Aber ich bin nicht ich selbst, Abra«, erwiderte sie. Ihre wässrig blauen Augen blitzten für einen Moment auf. »Ich bin die Göttin. Komm zu mir«, lud sie gerade einen etwa Achtzehnjährigen ein, dessen riesiger Adamsapfel vor Aufregung auf und ab hüpfte. »Bete mich an.«
Ich rannte zu Malachy zurück, um nicht miterleben zu müssen, wie diese Anbetung genau aussah. »Wir müssen sie aufhalten! Sie macht sich zum Gespött der ganzen Stadt - und zu noch Schlimmerem!«
Sie macht sich nicht zum Gespött der ganzen Stadt , sagte die
Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Sie ist die Tempelhure. Mir fiel ein Film meiner Mutter mit dem Titel El Castillo de los Monstres ein, in dem die jungfräuliche Tochter eines gewissen Don Carlos in eine Hohepriesterin des Baal verwandelt wurde und sich allen Männern des Ortes darbot.
Malachy reihte sich in die Schlange ein.
»He, Chef. Hier geht es aber nicht zur Praxis«, erinnerte ich ihn und zog ihn aus der Reihe der Männer heraus.
Seine Wangen waren gerötet, er tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab. »Ich möchte nur kurz mit Jackie sprechen. Vielleicht hat sie ja Red gesehen.«
»Wir sollten uns lieber an unseren ursprünglichen Plan halten.«
»Also ehrlich, Abra. Sie sollten mal einsehen, dass es nur logisch ist, uns mit Reds früherer Freundin zu besprechen.« Er reihte sich wieder in die Schlange. Als er feststellte, dass ein anderer seinen Platz eingenommen hatte, wollte er dem Mann auf die Schulter klopfen.
»Kommen Sie, Malachy.«
Ich nahm ihn am Arm. Doch er schüttelte mich ab, auf einmal seltsam wild entschlossen, seinen vorherigen Platz einzunehmen.
»Malachy, wir verschwenden wertvolle Zeit.« Allmählich verlor ich die Geduld.
Er würdigte mich keines weiteren Blickes. Ich blickte an ihm vorbei zwischen zwei Häusern hindurch. In der Ferne war ein Feld zu erkennen, an dessen Rand eine Baumreihe stand. Dort befand sich Bruin. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, aber ich vermochte die Schwere der Luft und die Dichte zu spüren, die durch die Überlappung der zwei Realitäten entstand und seine Gegenwart signalisierte.
Es konnte natürlich auch sein, dass Bruin zwar nicht dort war, inzwischen jedoch die ganze Stadt als sein Territorium markiert hatte.
»Malachy, bitte«, flehte ich und zog erneut an seinem Arm. Red, dachte ich, wo steckst du nur? Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, seit ich ihn gesehen hatte, und doch war es erst am Morgen gewesen.
»Verzeihung«, sagte Malachy zu dem Mann vor ihm. »Aber Sie stehen auf meinem Platz.«
»Als ich eingetroffen bin, haben Sie hier aber nicht gestanden«, entgegnete der andere. Er trug eine Schirmmütze mit dem Logo der örtlichen Farmerbedarfshandlung und hatte ein Glas Honig in der Hand.
»Ich bin nur kurz einen Schritt zur
Weitere Kostenlose Bücher