Wolfslied Roman
aussah. Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich es gewesen war, die ihm das angetan hatte. Der Gedanke, jetzt einfach davonzufahren und ihn hier einem langsamen und qualvollen Tod auszuliefern, widersprach allem, woran ich jemals geglaubt hatte.
Außerdem wusste ich sowieso nicht, ob der Wagen oder auch ich überhaupt in der Lage sein mochten davonzufahren. Verdammt, ich wünschte mir, Red wäre da gewesen. Ich durchsuchte die Tasche nach der Spritze mit Butorphanol und versuchte mich daran zu erinnern, wie viel davon
übrig war. Vielleicht reichte es noch für zwei Schäferhunde - aber würde es auch ein Tier beruhigen, das die Größe eines Autoanhängers hatte? Mir blieb nichts anderes übrig, als es darauf ankommen zu lassen.
»Ich werde dir nicht wehtun«, sagte ich mit leiser, beruhigender Stimme und fischte in meiner Tasche nach der Injektionsspritze. »Ich muss dich nur untersuchen.«
Als ich mir das Stethoskop um den Hals hängen wollte, stellte ich fest, dass dort noch immer die Kette meiner Mutter baumelte. Ich fasste danach und erstarrte. Der Bär grunzte und sah mich mit einem merkwürdigen, fast gebieterischen Blick an. Dann erhob er sich auf seine Hinterbeine, und mir stockte der Atem. Meine Vernunft versuchte mir mitzuteilen, dass er jetzt vorhatte, mich genauer unter die Lupe zu nehmen.
Aber etwas anderes - Ursprünglicheres - in mir erklärte mir: Das ist der König aller Bären, und er will dich bei lebendigem Leib verspeisen.
Ohne es zu merken umklammerte ich den Mondstein und versuchte mich an all das zu erinnern, was ich über Bären wusste. Red hatte mir einmal erzählt, dass Totstellen zwar bei Grizzlybären funktionierte, nicht aber bei Schwarzbären, weil diese Menschen als potenzielle Beute betrachteten. Das half mir jedoch leider nicht weiter, denn dieser Bär da sah in meinen Augen verdammt wie ein Schwarzbär aus, auch wenn sein Fell goldbraun und er so groß wie ein Grizzlybär war.
Er gab ein seltsames Geräusch von sich - wie der Wind, wenn er im Laub raschelt, gefolgt von einem seltsamen Pochlaut, der so gar nicht nach dem tiefen Brüllen klang, wie man es von den Bären in Filmen gewöhnt war.
Mir wurde mulmig. Ich erinnerte mich an eine Natursendung, in der ein Berglöwe ein Hirschkalb erst lange angestarrt hatte, ehe er es attackierte. Reds Großvater hatte dieses Verhalten offenbar als ein Fragen um die Erlaubnis des Raubtiers verstanden, angreifen zu dürfen. Es würde angeblich so lange nicht zum Sprung ansetzen, bis diese Erlaubnis gegeben worden war.
Damals hatte ich mich gefragt, warum die Beute damit einverstanden sein sollte, gefressen zu werden. Doch jetzt begriff ich. Der Bär strahlte eine Aura der Macht aus, die so stark war, dass ich sie fast mit Händen greifen zu können glaubte. Ich konnte die Spannung zwischen mir und dem Tier förmlich spüren, die sich wie ein metaphysisches Netz um mich gelegt hatte. Es gab keine Möglichkeit der Flucht. Wohin ich auch blickte, ich wusste, dass ich verloren war. Der Bär und ich spielten Schach, und mir blieb nichts anderes übrig, als einzusehen, dass er mich schachmatt gesetzt hatte.
Doch Verlieren bedeutete auch den Tod, und ich war noch nicht zum Sterben bereit. Meine ohnehin schon schlechte Sehkraft wurde durch die Tränen noch schwächer, die mir nun in die Augen traten. Der Bär verschwamm vor mir, und einen Moment lang glaubte ich einen Mann zu sehen, der mich aus schmalen Augen finster musterte.
Muss an dem Unfall liegen, dachte ich. Vermutlich hatte ich mir eine Gehirnerschütterung zugezogen, und das war nun die verspätete Reaktion. Ich blinzelte, um klarer sehen zu können, was jedoch nicht so gelang, wie ich es mir vorgestellt hatte. Denn jetzt sah ich eindeutig einen Mann in einem Pelzmantel. Er war untersetzt und muskulös, hatte goldbraune Haare und einen dunkleren Bart. Etwas an
seiner Erscheinung ließ mich an selbst gebrannten Whiskey und riesige Fleischberge denken, an Narben und Blut unter den Fingernägeln.
Offenbar hatte ich mir den Kopf stärker als gedacht verletzt.
Ich rieb mir wie eine Zeichentrickfigur die Augen, doch der Mann löste sich nicht in Luft auf. Nun versuchte ich etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
Schließlich brach er das Schweigen. Zuerst glaubte ich, dass der Laut, den er von sich gab, nur zeigte, dass er eine eingequetschte Luftröhre oder eine sonstige Verletzung hatte. Dann jedoch wiederholte er das Geräusch. Jetzt begriff ich, dass er versuchte, Worte
Weitere Kostenlose Bücher